Die Angst war das beherrschende Gefühl in Viola. Wie man sich auf dieser großen Welt mit all den anderen Menschen und all den unplanbaren Momenten sicher fühlte, das konnte sie nicht verstehen. Selbst in ihren eigenen vier Wänden sah sie das Ende. „Was, wenn gleich die Decke über mir einstürzt?“, dachte sie abends, wenn sie im Bett lag.
„Mein Leben fühlt sich manchmal an wie ein surrealistisches Gemälde. Irgendwie verschlungen und verwirrend, ein bisschen aus der Form geraten, aber tief drinnen versteckt sich ein Sinn, den man finden muss“, begann sie zu erklären. Wir saßen auf der Bank in dieser „Nicht-nehr-ganz-Winter-aber-auch-noch-nicht-ganz-Frühlings“-Sonne und versuchten verzweifelt mit Gesprächen die Wochen zu überbrücken, in denen wir uns nicht gesehen hatten. Es schien, als wollte sie ein Thema finden, über das wir wie früher mehr als zwei Sätze zu sagen wussten und das nicht mit „Ah, ok“ oder „Ja, ich auch“ endete.
Ich schwieg.
„Du weißt schon, wie dieses Gemälde von Dalí, auf dem die Uhren zerlaufen“, verdeutlichte sie.„Es ist so ein Gefühl, dass ich schon noch ein Bein in der Realität habe, aber dass irgendwie alles zerfließt und außer Kontrolle gerät“, meinte sie.
„Ah, ok“, antwortete ich.
Sie sah mich an und lächelte scheu. Nach einer Weile sah sie auffälliger als nötig auf die Uhr und sagte: „Naja, ich muss jetzt dann auch los.“
„Ja, ich auch“, log ich und stand auf.
Gemeinsam gingen wir in Richtung U-Bahn.
„Schön, dass wir uns einmal wiedergesehen haben“, sagte sie und drückte mich zum Abschied.
„Ja, fand ich auch, erwiderte ich und strich ihr kurz über die Schulter. „Komm gut nach Hause“.
„Du auch“, rief sie mir zu, während die Rolltreppe sie aus meinem Sichtfeld fuhr.
Ich atmete tief aus. Irgendwie erleichtert mit dem Gefühl jetzt wieder ich sein zu können. Ich, der keine verkrampften Gespräche führte, ich, der sich endlich eingestehen konnte, wie sehr er gefroren hatte, weil es doch trotz Sonne einfach erst Anfang Februar war.
Als Viola mit der Rolltreppe hinunterfuhr war es, als kämen ihre Dämonen näher und näher. Düstere Gedankenungeheuer, die hinter ihr in ihren Fußabdrücken liefen und ihr dauerhaft das Gefühl gaben, sie müssten nur den Arm ausstrecken und schon könnten sie sie zu Boden reißen.
Viola, die sich fühlte, als würde sie über den Tischrand hinaus zerlaufen und zu Boden tropfen, bis nur noch eine Pfütze zum Aufwischen übrig war. Sie hatte versucht, es ihm klarzumachen – aber wie könnte man der anderen Person etwas erklären, was man selbst nur vernebelt wahrnimmt?
Ich stand noch immer oben an der Rolltreppe und sah zu, wie sich Stufe für Stufe absenkte und neue nachkamen. Ich hätte sie wirklich gerne verstanden. Es war nicht so, dass ich nicht mit ihr hatte reden wollen. Aber wie sollte ausgerechnet ich mit jemandem ein Gespräch führen, der oft lieber Burggräben aushob, statt Luftschlösser zu bauen?
Franz Kafka riet angeblich: „Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Hindernis – vielleicht ist keines da!“ Ich war versucht, ihr nachzulaufen und ihr das entgegenzuschreien. Ihr zu sagen, sie solle mehr Zeit mit den Einhörnern verbringen, statt mit den Ameisen. Doch wahrscheinlich saß sie schon im nächsten Zug und floh vor den UFO’s am Nachthimmel.
Viola, die Angst und ihre Träume: sie waren eine kleine, unglückliche Familie, die zusammen in einem Haus lebte und sich gegenseitig die Zeit im Bad streitig machte.
Am Schluss war keiner von ihnen wirklich zurecht gemacht für den Tag.