Hans-Georg Heinemann saß in seinem gemütlichen Ohrenbackensessel, blickte durch das Panorama-Fenster hinaus in den verschneiten Garten und kraulte den Kopf des ausgestopften Murmeltieres in seinem Schoß. Er tat das immer, wenn er sich mit scheinbar unlösbaren Problemen konfrontiert sah. Und dieses Problem war nicht nur scheinbar, sondern schier unlösbar.
Die monotone Kraulbewegung beruhigte ihn und öffnete seinen Geist für all die Optionen, die ihm die Hektik des Alltags unterschlug. Er hätte sich eine Katze zulegen können, doch der Vorteil am Murmeltier war definitiv, dass es tot war. Es bewegte sich nicht, es machte keine Geräusche, es stellte keine Ansprüche – es war einfach da und erfüllte seinen Zweck. Meistens jedenfalls. Denn heute war einer dieser Tage, an denen er eher eine Lösung für die Energiekrise als für sein Problem gefunden hätte.
Es ging um eine Frau.
Tatsächlich hatte Hans-Georg beim Thema Paarung viel mit Murmeltieren gemeinsam. Das Waldmurmeltier zum Beispiel sucht Artgenossen nur zur Paarung auf. Die meiste Zeit haben Männchen keine Ahnung, wo sich die Weibchen überhaupt aufhalten. Eine sehr praktische Lebensweise. Auch Hans Georg war im Grunde ein Einzelgänger.
Er kraulte und stellte sich vor, wie einfach es sein würde, wenn er ein Murmeltier wäre. Schlafen, Fressen, Paaren und zwar in absteigender Relevanz.
Er hatte sie über das Internet kennengelernt. Natürlich hatte er das. Niemand lernte heutzutage noch auf der Straße jemanden kennen. Und einmal davon abgesehen, dass weibliche Wesen schon seit seiner Jugend ein Mysterium für Hans-Georg gewesen waren, raubte ihm diese spezielle Frau den letzten Nerv. Sie antwortete nämlich seit zwei Tagen einfach nicht mehr. Das zwang Hans-Georg dazu, zuerst an seiner Internetverbindung, dann an der richtigen Funktionsweise der Webseite zu zweifeln. Und – nachdem er beides auf absolute Fehlerfreiheit überprüft hatte – alle 15 Minuten die Treppe hoch in sein Arbeitszimmer zu laufen und auf „Postfach aktualisieren“ zu klicken. Das brachte ihm nebenbei einen hübschen Muskelkater in den Oberschenkeln ein.
Er nahm seine Tasse vom Beistelltischchen, trank einen Schluck Tee, stellte die Tasse zurück und kraulte weiter. Er wusste nicht, wo sie sich aufhielt. Jedenfalls nicht genau, denn sie hatte in ihrem Profil nur „München“ angegeben und das war ja ein sehr dehnbarer Begriff. Beate hieß sie, Beate und „den Nachnamen kriegst du irgendwann mal ;)“. Tatsächlich hatte Hans-Georg mit dem Gedanken gespielt, einfach mal im Telefonbuch nach ein paar Beates zu suchen. Aber das Murmeltier hatte ihm bereits die Gewissheit verschafft, dass dies eine wenig effektive Idee war. Hatte schon seine Berechtigung, das kleine Wesen. Eine Lösung war das aber natürlich immer noch nicht.
Er merkte, dass sich sein Griff um den Kopf des Tieres verstärkt hatte; Anspannung. Es drängte ihn, nach oben zu laufen. Aber nein! Es war Murmeltierzeit.
Sie war es, die ihm zuerst eine Nachricht gesendet hatte. Es fand sie auf dem Bild gar nicht mal so toll. Aber Beate war auch der Name seiner Mutter gewesen und diesen Zufall fand Hans-Georg so bemerkenswert, dass er trotzdem geantwortet hatte. Sie hatten ein bisschen hin und her geschrieben. Irgendwann hatte Hans-Georg nach einem Treffen gefragt und seitdem war Chatstille.
Wie verhielt man sich da? Schrieb man noch einmal? Nein, du klingst sonst so, als hättest du es nötig. Und es muss ja keiner wissen, wie nötig du es hast, riet ihm das Murmeltier. Recht hatte es.
Beate spielte Geige und sie mochte asiatisches Essen, war aber noch nie in Asien. Hans-Georg auch nicht. Letzten Sommer hatte er ab und zu in seinem Garten gezeltet. Das hatte ihn an seine Kindheit erinnert, als er mit seinen Eltern einmal in Slowenien gewesen war. Er wäre gerne mit Beate nach Asien gereist. Aber Beate wollte sich nicht mit ihm treffen, also würde es weder nach Slowenien, noch nach Asien, ja nicht einmal in den Schwarzwald gehen. Sie würde nichts, aber auch gar nichts von der Welt sehen! So!
Seine Finger spannten sich weiter an.
Da kam er aus seinem Bau gekrochen, hatte die verschlafenen Augen geöffnet und sie als Weibchen auserkoren – unter 10.000 anderen auf dieser Plattform. Und was machte sie, die Frau Beate „den Nachnamen kriegst du irgendwann mal ;)“? Sie machte ihm Hoffnungen, entblößte ihn bis auf die Gretchenfrage und ließ ihn dann vollkommen nackt, deckungslos und mit schmerzenden, muskelbekaterten Beinen auf der Stelle treten?
Seine Finger hatten den Kopf des Murmeltiers fest gepackt …
Meinte das dumme Weib das wirklich ernst?
drückten zu …
Sie würde schon sehen, was sie davon haben würde!
… und mit einem Ruck riss Hans-Georg das ausgestopfte Tier entzwei. Den Kopf in der rechten, den Körper in der linken Hand und Holzwolle im Schoß blickte Hans-Georg verdutzt von einer zur anderen Seite. Seine Wut auf Beate wich entsetzlichem Mitleid und tiefer Reue.
Was hatte Beate getan? Sie hatte sein Murmeltier kaputt gemacht, einfach kaputt gemacht, als würde es ihr gar nichts bedeuten. Hans-Georg brannten Tränen in den Augen. Vorsichtig legte er die Teile beiseite, stieg die Treppe rauf und drückte auf „Postfach aktualisieren“.
„Hallo, Hans-Georg, ja gerne. Wie sieht es bei dir zum Beispiel am Donnerstag aus?“