Das Leben leben – jeder versucht es auf seine eigene Art. Die einen träumen und greifen nach den Sternen, die anderen stehen daneben und beneiden diese Lebenshelden für Ihre Verrücktheit.
“Das Leben leben – jeder versucht es auf seine eigene Art. Die einen träumen und greifen nach den Sternen, die anderen stehen daneben und beneiden diese Lebenshelden für Ihre Verrücktheit”
Weltwasser
Auch ein Eimer Salz macht aus einem See noch kein Meer.
„Flieg mit mir davon. Du musst gar nichts tun, wir steigen ein und verlassen den Raum der Schwerkraft, bis wir unser Gewicht nicht mehr spüren, bis wir schwerelos sind, irgendwo in der Galaxis. Wir fliegen an der Sonne vorbei und am Mond, bis hin zum Saturn!“
Der Saturn hatte es ihm angetan. Mit seinem Ring, faszinierender als der Mars oder die Venus, trotzdem nur ein Planet unter vielen, die er so sehr bewunderte. Er verehrte doch alles, was so weit fort war, alles Unerreichbare übte eine Faszination auf ihn aus, dass man Acht geben musste, dass er nicht irgendwann vor lauter Fernweh vergaß, was vor ihm lag.
Ich lebte in ständiger Angst um ihn, aber er nahm es leicht, wenn er fiel, dann stand er auf, beeindruckend eigentlich, sooft wie er fiel.
Bei unserem letzten Gespräch zählte sein Körper eine Knieverletzung, zwei Brüche des Wadenbeins, sowie eine Überdehnung des Sprunggelenks, drei Rippenbrüche, einer links, zwei rechts, eine mittelschwere Kopfverletzung- Gehirnerschütterungen rechnete er nicht- Bänderzerrungen in Armen und Beinen und außerdem eine Notoperation an der Wirbelsäule. Ein medizinisches Gesamtkunstwerk. Aufschneiden, reparieren, zusammenflicken, aufstehen und weiter machen.
Eigentlich schon ironisch, dass er jetzt nicht mehr am Leben ist. Irgendwie hatte ich mir seinen Tod immer spektakulär vorgestellt. Auf einer Himalajareise verschollen, oder im Weltraum von einem kleinen Meteoriten erschlagen. Nicht, dass er es jemals bis dorthin geschafft hätte.
Aber so ein simpler Blinddarm, ein Teil, der für den Körper ungefähr so überlebenswichtig ist, wie ein Stein, das enttäuscht mich. Einsam und so ganz ohne Aufsehen war er gegangen.
Auch, dass seine Beerdigung etwas so Alltägliches gewesen war, so nah an der Erde und so weit weg von allem, wo er gerne hinwollte, war unverantwortlich.
Er hatte in einer Urne niemals genug Platz für alle seine Träume.
Sein Glaube an ein Leben nach dem Tod, in dem die Seele frei von allem empirischen Zwängen im Universum nach neuen Möglichkeiten streben konnte, verweigerte ihm ein Ende in einem Tongefäß, versteckt und erstickt von einer Decke aus Dreck und Blumenkränzen.
„Du wirst schon sehen. Gib mir vielleicht zehn Jahre und ich winke dir vom Saturn aus zu und tanze auf dem Ring Walzer mir meiner Traumfrau, du Zweifler“, hatte er einmal gesagt.
Die Vorstellung gefällt mir, schade, dass ich es nie erlebt habe.
„Aber weißt du, was noch besser ist, als der Weltraum?“, fragte er dann weiter.
„Nein, was?“, war meine Antwort.
„Die absolute Zukunft der Geheimnisse. Das Meer. Man, wäre ich gerne ein Fisch, oder ein Vogel, aber lieber ein Fisch, ein kleiner Fisch, damit ich in alle Ecken sehen kann und in jede Felsspalte. Ich will in unterseeischen Höhlen leben und im Schlamm wühlen und Wasser atmen. Ach, ich will zum Meer. Ich lebe für die Ozeane und für das All, ganz oben und ganz unten, die Ambivalenz des Unerforschten, die Mitte interessiert doch nicht!“
Ich habe da gestanden auf dem Friedhof, wo er ein Teil des Todes war, hinfortgewischt, wo keiner nach seiner Zukunft fragte und ich dachte mir nur, was der Mist eigentlich sollte. Warum die hier Heulmusik spielten und Schwarz trugen, verdammt, so ein beschissenes Scheißszenario.
Ich war früher gegangen, hab noch nicht einmal mitbekommen, wie sie das Grab wieder zuschaufelten.
Er hatte immer gesagt, dass sein Lieblingsbuch „Die unendliche Geschichte“ sei. Er wollte mir davon erzählen, wie gerne er es wäre, der Phantàsien rettet, schließlich würden ihm unendlich viele Namen für die kindliche Kaiserin einfallen.
„Ich möchte die Welt sehen, wie Kinder sie sehen. Einfach alle Probleme beiseite schaffen und befreit in den Tag hinein leben. Lachen dürfen, wann ich will, weinen dürfen, wann ich will und vor allem träumen wann ich will! Regeln sind was für Idioten. Nicht alle Regeln natürlich, aber viele. Chaos wäre ja auch keine Lösung, obwohl, so ein bisschen Anarchie hat noch keinem geschadet und Fantasie entwickelt sich viel besser ohne Ordnung.
Wie damals der Pappkarton, du erinnerst dich? Der von unserem Kühlschrank, überall lag das Styropor herum, dazwischen Plastikfolie, Schrauben und Werkzeug. Glaubst du nicht auch, dass die Kiste in einer sterilen Umgebung nur Abfall für uns gewesen wäre?
Es kommt auf das Umfeld an. Inmitten einer riesigen, ordentlichen Küche ist der Karton Müll, aber inmitten von Müll wird er zu etwas Besonderem. Verstehst du, wie wichtig es ist, Dinge mal von der anderen Seite zu sehen?“
Damals habe ich es nicht verstanden, aber ich verstehe es jetzt. Inmitten von lebendigen Menschen war er mir nicht aufgefallen, aber inmitten von Toten sticht er heraus.
Und genau das ist der Grund.
Der Pappkarton, riesig, eckig und innerhalb eines Nachmittags hatte er daraus ein „U- Boot“ gezaubert. Nur mir etwas Klebstoff, Schere und Farbe, einfach so, weil er es in der Kiste gesehen hatte.
Unmöglich, dass er damals schon so mit Gedanken spielte, er war 7!
Vielleicht war es das, was uns beide unterschied, das Spiel.
Wie Monopoly, bei viel Pech musste man eben zurück zum Start oder landete auf einer teuren Straße. Und was machte das? Es war doch nur eine neue Chance auf „Frei Parken“. Ich spiele nicht, ich kalkuliere, aber auf „Frei Parken“ kam immer nur er.
Wie mit den Frauen. Ich plante das ganze Rendezvous schon vor der Begegnung. In welches Restaurant, welcher Wein dazu, alles perfekt. Er verabredete sich irgendwo im Park und entschied dann, was sie machen könnten, meistens ließ er sie entscheiden. Ich redete, er lachte, ich wurde geschieden, er nicht.
An einen Spruch von ihm, werde ich mich immer erinnern, als er versuchte meine Ehe zu retten.
„Alle Sterne werden heute Nacht am Himmel erscheinen und sie werden alle nur für dich leuchten. Und wir beide reiten auf ihnen davon, bis in die Ewigkeit und Unendlichkeit.“
Diesen Satz habe ich meiner Frau nicht gesagt.
„Eigentlich ist es doch richtig bescheuert, dass der Mann danach bemessen wird, wie viel Arschloch er ist. Als ob den Frauen das gefällt. Wenn wir immer nur an das eine denken, verpassen wir doch das Beste!“, sagte er.
„Vielleicht reicht ,Gut’ ja“, meinte ich
„Tut mir leid, aber warum sollte ich mich mit ,Gut’ zufrieden geben, wenn ich genau weiß, wie man das Beste bekommt?“, erwiderte er.
Komischerweise hatte er immer das Beste bekommen, wahrscheinlich, weil er nie nur das Gute wollte.
Das sollte sich mit seinem Tod nicht ändern.
Ich weiß bis zu dieser Sekunde nicht, ob ich wirklich entscheiden kann, was das ist.
Aber ich kenne ihn, glaube ich.
Ich hoffe einfach, dass es mehr als gut ist.
Ich weiß nicht, wie man zwischen echten und unechten Freunden unterscheidet, er konnte das auch nicht, einfach weil er zu viele hatte und ich zu wenige, aber ich weiß, dass er der gute war.
Was ist der Grund? Warum sind wir Menschen so wie wir sind und wieso sind manche Situationen so lächerlich? Warum ist er tot, obwohl er an die unendliche Geschichte geglaubt hat und wieso stehe ich hier, obwohl ich das nicht getan habe?
Warum stehe ich hier und warum ist sein Grab leer?
Weil ich diesen Ort mag. Ich mag den Wind, der mir durch das Haar fährt und das Grab ist leer, weil ich die Urne fest im Arm halte.
Und genau das ist auch der Grund.
Ich öffne vorsichtig den Deckel und lasse die Asche durch die Luft wirbeln. Ein Teil davon wird zu den Sternen und Planeten fliegen und ein Zweiter wird von der Schwerkraft zurück auf die Erde gezogen werden und im Meer landen, zu Boden sinken und in jeden Winkel blicken können.