Die Ärzte erklärten ihr, sie sei krank, aber die Frau wusste genau, dass ihr Vergessen ganz andere Ursachen hatte. Traum und Realität verschwammen bei ihr einfach manchmal nahtlos miteinander.
“Die Ärzte erklärten ihr, sie sei krank, aber die Frau wusste genau, dass ihr Vergessen ganz andere Ursachen hatte. Traum und Realität verschwammen bei ihr einfach manchmal nahtlos miteinander”
Wasserzungen
„Guten Morgen Realität,
schön von dir zu hören,
aber um ehrlich zu sein passt es mir im Moment überhaupt nicht,
ich bin noch nicht fertig mit träumen!“
Die alte Frau stand auf der Brücke und wusste nicht, in welche Richtung sie gehen sollte. Also blieb sie da und starrte auf das Wasser, das unter ihr leise dahinfloss. Klar und geheimnisvoll kam es ihr vor, eine Decke aus Wellen, über Steinen und Tieren.
Es dämmerte bereits und eigentlich war ihr kalt, aber sie hatte vergessen, aus welcher Richtung sie gekommen war. Natürlich würde ihr dieses gedankenverlorene Auf-eine-Stelle-Blicken die Erinnerung nicht zurückbringen.
Die Ärzte erklärten ihr, sie sei krank, aber die Frau wusste genau, dass sie gesund war und dass ihr Vergessen ganz andere Ursachen hatte. Der Traum verschwamm einfach bei ihr manchmal so nahtlos mit der Realität, dass die Frau oft nicht mehr wusste, was tatsächlich geschehen und was ihrer Fantasie entsprungen war.
Auf der Wasseroberfläche begannen kleine Wesen zu tanzen, die Frau erkannte sie als Kobolde. Sie bildeten einen Reigen und winkten ihr freudig zu. Die alte Frau winkte zurück und lächelte. In der Mitte des Kreises stieg aus den Wellen eine Frau empor, deren langes, glänzendes Haar weich über ihre zarten Schultern fiel. Ihre dunkelgrünen Augen richteten sich auf die Frau auf der Brücke. Diese streckte die Arme aus, um der Schönen aus dem Fluss die Hände zu reichen, aber sie war zu weit weg, zu weit, um sie zu berühren.
Der aufkommende Wind umspielte ihre Haare – wie schnell es doch ging, dieses Vergessen.
Der Tanzreigen begann sich schneller und schneller um die eigene Achse zu drehen, Wasser spritzte der alten Frau ins Gesicht.
Es hatte zu regnen begonnen.
Die Kobolde wirbelten mehr und mehr Wasser auf, Tropfen für Tropfen benetzte die Haut der Frau, aber sie wandte ihre Augen nicht von dem Schauspiel ab. Und jetzt kam die Schöne aus dem Wasser und stieg ans Ufer. Feengleich, atemberaubend, die Alte erkannte sich selbst in der Erscheinung.
Sie trat zur Frau auf die Brücke, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sagte:
„Komm, wir gehen nach Hause.“