Hochsensibilität ist keine Krankheit, es ist ein Anderssein. Ein Sein, das von sehr viel Gefühl geprägt ist, von sehr vielen Gedanken und von sehr vielen Reizen. Aber auch, wenn es manchmal hart ist, so ist es doch so schön.
“Hochsensibilität ist eine Herausforderung, die einen ab und zu an seine Grenzen bringt. Aber auf der anderen Seite auch so vieles bereithält”
Und manchmal, da weine ich eben ein bisschen… na und?

Morgens 8:25 Uhr, ich sitze in der S8 Richtung Flughafen. Ich bin auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Mein linkes Knie klemmt unbequem unterm Mülleimer, da der Mann mir gegenüber seinen Koffer in den Fußraum gequetscht hat. Er telefoniert lautstark und löffelt nebenbei einen Pudding. Neben mir sitzt ein Junge, der Musik hört; so laut, dass die Melodie des Punk Rock Songs durch seine voluminösen Kopfhörer dringt. Die letzte Person in unserem Vierer-Abteil ist eine Frau, die sich in schnellem Französisch mit der Frau mit dem Kind im Vierer nebenan unterhält. Im Gang stehen Leute. Die Luft ist so stickig, dass ich kaum atmen kann.
Kurz nach der Hackerbrücke wird unsere S-Bahn langsamer und bleibt schließlich stehen. „Unsere Weiterfahrt wird sich noch um wenige Augenblicke verzögern, da der Gleisabschnitt vor uns noch belegt ist“, schallt es durch die Lautsprecher. Um mich herum genervtes Schnauben. Ich sehe auf mein Handy. In 7 Minuten fährt mein Zug. Ich hatte ursprünglich 19 Minuten Umsteigezeit, aber die S-Bahn fuhr bereits 10 Minuten zu spät von Pasing aus los. Nach einigen Sekunden fängt das Kind im Vierer nebenan an zu schreien. Neben mir wummert ein neues Lied, Hard Rock. Der Mann mit dem Handy wird lauter, weil die Stimmen um ihn herum lauter werden.
„Seid bitte leise. Bitte seid leise“, denke ich mir.
„Könnt ihr nicht einfach alle mal ruhig sein!? Könnt ihr bitte einfach die Klappe halten!“, brüllt mein Kopf. Mein Mund bleibt aber stumm, denn so ein Ausbruch in der Öffentlichkeit würde sich nicht gehören.
Ich bin hochsensibel. Das bedeutet, dass ich Reize nicht besonders gut selektieren kann und schon gar nicht ausblenden. Mein Nervensystem nimmt sie alle auf und versucht sie in all ihren Nuancen zu verarbeiten. All diese Geräusche und Stimmen, Stimmungen und Gerüche ballen sich in meinem Kopf zusammen und wachsen und wachsen, bis ich am liebsten um mich schlagen würde, um alles zum Schweigen zu bringen. Und da ich das nicht darf, geht alles nach innen und frisst sich durch meinen Magen, sodass mir kotzübel wird.
Die S-Bahn fährt weiter und hält schließlich am Hauptbahnhof. Ich will raus hier! Ein Junge mit großem Rucksack versperrt mir den Weg und in meinen Gedanken stoße ich ihm meinen Ellenbogen ins Kreuz, damit ich vorbeikomme; aber in der Realität lächle ich und schiebe mich irgendwie an ihm vorbei. Am Bahnsteig laufen Massen von Menschen an mir vorüber. Am liebsten würde ich mich an die Wand drücken, mir die Hände vor die Augen halten und warten, bis niemand mehr da ist. Aber ich habe keine Zeit mehr, ich muss zum Zug rennen. Mein Tag ist noch nicht einmal zwei Stunden alt und mein Stresslevel ist bereits am Anschlag.
Viele Freunde um mich herum können mich nicht verstehen. Sie halten mich für unverschämt, wenn ich Geburtstagsfeiern frühzeitig wieder verlasse, wenn ich mich weigere bei jemandem zu übernachten, oder nicht von mir aus alle paar Tage ein Treffen vorschlage. Dass ich einfach fertig bin, obwohl ich eigentlich nichts gemacht habe, das können sie nicht nachvollziehen.
Ich muss ab und zu Notlügen erfinden, um Treffen abzusagen, oder zu verschieben, weil die Ausrede „ich packs einfach nicht“, keine adäquate Begründung ist. Man darf nicht einfach keine Lust auf etwas haben, oder müde sein. Man muss auf alles und jeden zu jederzeit Lust haben. Und ich brauche aber Zeit für mich. Zeit ohne Reizüberfluss, Zeit um mit meinen tausend Gedanken im Kopf alleine zu sein.
Hochsensibel, das ist keine anerkannte Krankheit und deshalb auch keine Rechtfertigung. Es ist ein Charakterzug, der mich mehr spüren lässt. Manchmal gefühlt den Schmerz der ganzen Welt.
Autofahren ist für mich die Hölle. Denn da prasseln dutzende Reize auf einmal auf mich ein. Hier ein Fußgänger, da ein Randfahrer, da vorne kommt eine Engstelle, die Ampel schaltet gleich auf Rot – Gas geben oder bremsen? Links abbiegen, rechts abbiegen, Vorfahrt beachten. Für andere Normalität, für mich jedes Mal ein kleiner Triumph, wenn ich am Ziel angekommen bin.
In manchen Nächsten schlafe ich so schlecht, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn ich gar nicht erst ins Bett gegangen wäre. Andere Menschen haben „schlecht geschlafen“, wenn sie nachts einmal aufgewacht sind, ich definiere es als „gut geschlafen“, wenn ich weniger als drei Mal aufgewacht bin. Ob ich schlafen kann hängt vom Wetter, vom Mond, vom Kissen, von der Temperatur und anscheinend einer Million weiterer Gründe ab. Nur wenn alle Parameter stimmen, kann auch ich einmal durchschlafen. Aber auch das versteht kaum jemand, schließlich schläft doch jeder einmal schlecht.
Anderen Menschen macht es nicht viel aus, wenn der Partner etwas schnarcht. Ich liege nachts da und überlege mir, ihm ein Kissen auf die Nase zu drücken, weil ich es nicht ausblenden kann und es mich wach hält – aber laut darf ich das nicht sagen.
Ich darf gar nichts davon laut sagen.
Als ich abends nach Hause komme, steht das Geschirr von vorgestern noch in der Spüle, der Müllbeutel hängt immer noch an der Tür und der Kühlschrank ist leer, aber zum Einkaufen habe ich einfach keine Kraftt mehr. Ich lege mich ins Bett und muss das Licht ausmachen, weil es mich blendet. Und dann lasse ich meinen Tag Revue passieren und bin so erleichtert, dass ich endlich alleine bin und zu Hause.
Das einzige Ventil, alles rauszulassen sind Tränen.
Und dann liege ich abends um 19 Uhr in meinen Bett – eine Zeit, zu der der Tag bei anderen noch jung ist – und weine, weil mich das Leben heute wieder einmal ans Limit gebracht hat, ohne dass wirklich etwas passiert ist. Weil mein inneres Stresslevel, ohne dass es objektiv betrachtet stressig war, am Anschlag ist.
Ja, ich bin nah am Wasser gebaut und reagiere oftmals sehr emotional. Andere Leute finden das doof, weil mir eben schnell Tränen kommen wenn ich unglücklich bin oder unter negativem Druck stehe, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, oder insgesamt einfach zu viel fühle. Manchmal mache ich mir sogar Sorgen über die Sorgen von anderen. Das ist nicht gut. Aber ein “aus den Augen, aus dem Sinn”, gibt es nicht bei mir.
Aber auch, wenn mich das alles Kraft kostet, dann will ich nicht anders sein. Denn dafür kann ich etwas ganz besonderes. Ich kann mich ungemein über Kleinigkeiten freuen. Manchmal macht ein Kompliment, etwas, das andere nur im Vorbeigehen mitnehmen, meinen Tag wunderschön. Ich kann unglaublich stolz auf meine und die Leistung anderer sein. Es gibt Tage, an denen kann ich fliegen. Ich kann aus so vollem Herzen lachen und lieben und kann so leidenschaftlich sein – diese Charakterzüge will ich nicht wissen. Außerdem lernt man mit der Zeit viel über sich selbst und entwickelt geniale Tricks, um alles ein bisschen erträglicher zu machen. Hey, für mich sind Aufgaben, die für andere selbstverständlich sind, Erfolgserlebnisse – wie genial ist das bitte?
Diesen Teil meines Lebens mag ich viel lieber und der macht auch viel mehr Spaß. Und manchmal… da weine ich eben ein bisschen… na und?