Ich habe nun fast eine Stunde darauf gewartet, mein Gepäck aufgeben zu dürfen, doch der Herr am Schalter schüttelt nur den Kopf. „Ihr Rucksack ist zu schwer.”
“Wir tragen einen Rucksack voller Dinge mit uns herum, die uns nur behindern”
Leichtes Gepäck
Ich habe nun fast eine Stunde darauf gewartet, mein Gepäck aufgeben zu dürfen, doch der Herr am Schalter schüttelt nur den Kopf. „Ihr Rucksack ist zu schwer. Entweder Sie packen etwas davon um, oder ich muss Ihnen einen Aufpreis berechnen“.
Ich hieve enttäuscht meinen Rucksack vom Band und schleppe ihn zurück zu den Bänken, wo ich ihn öffne. Ich schaue hinab auf pures Chaos. Alles achtlos hineingeworfen, ohne ein System.
Da liegen sie vor mir, die letzten 27 Jahre meines Lebens und ich kann nicht so richtig erkennen, was denn hier bitte was sein soll.
Da sind Ängste in Erinnerungen verheddert, Freude mit Schmerz verknotet und Wissen mit Gefühlen verklebt. Was soll ich denn davon bitte umpacken? Ich könnte das doch alles noch brauchen. Missmutig stecke ich mir einen Kaugummi in den Mund und beuge mich dann seufzend über mein Gepäck.
Ich ziehe langsam eine Erinnerung hervor. Sie klebt an meinen Fingern und zieht Fäden wie geschmolzener Käse. „Mein erster Schultag“. Puh, ich wusste gar nicht, dass ich die noch habe. Verschwommen sehe ich eine rosafarbene Schultüte mit Pandabären. Ich wische die Erinnerung mit einem Taschentuch sauber, viel deutlicher wird sie dadurch allerdings nicht. Egal, die muss schon mit, entscheide ich.
Ein zweites Mal greife ich in den Koffer: „Lateinische Namen für Pflanzen“ – wahrscheinlich aus den paar Semestern Biologiestudium. Wer braucht denn sowas? Weg damit!
Ich schiebe ein paar Sachen zur Seite und wühle mich etwas tiefer in den Wust hinein. Schließlich halte ich ein seltsames Knäuel in den Händen. Ich kann gar nicht genau erkennen, was es ist, wo es anfängt und wo es aufhört, so als hätten sich mehrere Paar Kopfhörerkabel in meiner Jackentasche verknotet.
Fieberhaft versuche ich mich daran zu erinnern, was das sein könnte. Nachdem ich das Knäuel mehrmals in den Händen gedreht habe, da fällt es mir auf: Meine erste Beziehung! Ziemlich verdreckt und zusammengequetscht, aber ja, das muss sie sein. Der helle innere Kern des Knäuel ist von schwarzen Fäden umwickelt. So viel Leid außen rum. Ich fange an, die schwarzen Fäden abzureißen. Das ist so lange her, die Trauer brauche ich wirklich nicht mehr mitnehmen. Nur den Kern, den möchte ich behalten.
Nach und nach sammle ich immer mehr meines Lebens aus dem Rucksack. Einige Sachen wische ich sauber und lege sie vorsichtig zur Seite, bei anderen bin ich rigoros und werfe sie auf den Müll. Bei wieder anderen mache ich es wie mit der Beziehung. Ich trenne einen Teil davon ab und behalte nur das Schöne. Was will ich denn mit so vielen Tränen und verlorener Zeit in meinem Rucksack? „Platz schaffen“ ist mein neues Motto.
Der Kaugummi schmeckt mittlerweile schon sehr fad und ich tausche ihn aus. Außerdem bekomme ich langsam Durst und würde mir gerne am Kiosk etwas zu Trinken holen. Aber ich möchte mein Leben hier nicht so offen rumliegen lassen.
Beide Stapel wachsen, doch zu meiner großen Überraschung ist der Müllberg größer. Mit jedem Teil aus meinem Rucksack, fällt mir die Entscheidung leichter. Das brauche ich nicht, das brauche ich nicht. Oh Dreisatz, den behalte ich, Prozentrechnen auch, Gleichungen auflösen ebenfalls. Kurvendiskussion? Ähm, nein, werde ich nie wieder brauchen. Ich schicke eine kurze innerliche Entschuldigung an meine ehemaligen Mathelehrer, dann lege ich das unnütze Wissen zur Seite.
Weiter unten finde ich immer weniger Wissen, dafür deutlich mehr Erinnerungen. Einige davon haben ganz schön was abbekommen in den Jahren da unten im Rucksack. Verbeult und verschmiert, teilweise kaum noch erkennbar. Einige sind ganz zu Bruch gegangen und bestehen nur noch aus einzelnen Stücken. Zuerst habe ich noch versucht sie zusammen zu puzzeln. Aber das lasse ich jetzt. Das dauert zu lange. Die gut erkennbaren Bruchstücke dürfen mit, alles schemenhafte eben nicht.
Und dann komme ich endlich zum Boden. Hier hat sich eine Pfütze an ekliger, brauner Masse angesammelt. Was ist das denn?
„Brauchen Sie einen frischen Lappen?“ – Der Herr vom Schalter steht hinter mir. Ich schaue auf meine klebrige Hand und nicke.
„Ganz schön viel Aufgelöstes, das Sie da haben“, bemerkt er. „Sie haben wohl lange nicht mehr ausgemistet.“
„Aufgelöstes?“, frage ich.
„Naja, Sie wissen schon. Ausgelöschte Erinnerungen, überwundene Ängste, Kurzzeitgedächtnis-Leichen. Ziemlich eklig das Ganze, sickert durch alles andere durch und sammelt sich am Boden. Vielleicht sollten Sie sich einen neuen Rucksack zulegen. Das Zeug hält sich hartnäckig.“
Ich schaue hinab in meinen Rucksack. Das ist tatsächlich ziemlich eklig. Ein neuer Rucksack wäre vielleicht nicht schlecht, denke ich. Immerhin habe ich, wenn es gut läuft, noch 2/3 meiner Reise vor mir.
„Wir haben welche vorne in der Halle. Soll ich Ihnen einen holen?“, bietet der Herr vom Schalter an. Ich nicke und er geht los. Derweil wühle ich noch einmal in der braunen Masse, um keine Erinnerung, kein Wissen und kein Gefühl zu vergessen. Aber ich habe wirklich alles herausgefischt.
Der Mann kommt mit einem neuen Rucksack zurück, er ist groß und hat viele Fächer. „Schaffen Sie ein bisschen Ordnung, dann ist es in Zukunft leichter“, rät er mir.
Ich beginne meinen „Behalten-Haufen“ in die neue Tasche zu packen. Vorsichtig und etwas geordneter als vorher. Aber ein paar Sachen werfe ich dann doch einfach hinein – vor allem solche, die ich irgendwie nicht richtig zuordnen kann.
„Wow, ist der leicht“, strahle ich, als ich den Rucksack anhebe.
„Zu leicht“, stellt der Mann fest und überlegt einen Moment. „Haben Sie die Seitentaschen vergessen?“
Die habe ich tatsächlich vergessen. Man wie ungeschickt. Ich packe die kleinen Fächer an der Seite meines alten Rucksacks aus und nach und nach bildet sich vor mir ein Haufen schwerer schwarzer Kugeln – meine Ängste.
„Die können weg!“, sage ich.
„Können Sie nicht“, sagt der Mann. „Die entsorgt Ihnen keiner. Die müssen Sie nach und nach auflösen. Bundesgesetz“, erklärt der Herr.
„Aber sie sind so schwer“, murre ich.
„Jeder hat sein Gepäck zu tragen. Je schneller sie es erleichtern, desto leichter wird die Reise. Und jetzt schnell, der Flieger wartet nicht.“
Ich stopfe die Kugeln in ein Seitenfach des neuen Rucksacks, schnalle ihn um, werfe den Kaugummi in den Müll und mache mich auf zum Flieger.