“Ich will halt” scheint das unschlagbare Argument zu sein, weshalb es uns so schwer fällt, einfach einmal einen Schritt zurückzutreten. Warum müssen wir uns immer beschweren und Schlupflöcher suchen, um den Corona-Maßmahmen zu entgehen. Warum können wir nicht sehen, was wir alles tun können, statt uns permanent zu beschweren, was uns alles “weggenommen” wird?
„Ich will halt, also mache ich“ – Corona-Schlupflöcher statt Alternativen
Warum reicht ein “Bitte nicht” nicht mehr?

Mit „wir“ in den folgenden Zeilen meine ich uns als Nation, vielleicht sogar weiter gefasst uns als Menschheit und das Gesamtbild, das wir nach außen transportieren. Denn eigentlich sollten wir in der Pandemie an einem Strang ziehen. Ich möchte nicht pauschalisieren und alle grundsätzlich in einen Topf werfen. Aber dass wir vom selben Strang meilenweit entfernt sind, zeigen uns leider Bilder von Demos ohne Masken, von überfüllten Check-ins am Flughafen und kilometerlangen Staus vor Wintersportgebieten.
“Bitte” ist nicht genug
Der Lockdown wird verlängert und das war klar. Denn die Politik hat überhaupt keine andere Möglichkeit, als hart durchzugreifen. An die Vernunft zu appellieren, das funktioniert offenbar nicht. Menschen spucken anderen ins Gesicht, werden handgreiflich, weil man sie darum bittet, ihre Maske korrekt aufzusetzen. Sie feiern weiterhin Partys mit 30 und mehr Menschen und sie pilgern zu Tausenden an touristische Orte, statt – wie eindringlich gebeten – einfach in ihrem Umkreis zu bleiben. Das macht traurig und nachdenklich. Denn wir leben offenbar in einer Gesellschaft in der ein „Bitte tut das zum Wohle aller nicht“ für erschreckend viele keine Bedeutung mehr hat. Schade.
Wir scheinen neben dem Virus an sich daher noch ein ganz anderes Problem zu haben: Unserer Gesellschaft geht es anscheinend schon zu lange zu gut. Wir sind es gewohnt, alles zu haben und zwar genau dann, wann wir es haben wollen. Ohne besonders viele Anstrengungen dafür auf uns nehmen zu müssen. Wir sind es sogar so sehr gewohnt, dass es nun Menschen gibt, die wirklich glauben, dass man sie ihner Freiheit beraubt. Die sich mit Opfern systematischer Verfolgung und Hinrichtung vergleichen. Das ist erschreckend.
ICH WILL HALT!
Anscheinend sind die letzten wirklichen Einschränkungen von Grundrechten und Freiheit der deutschen Bevölkerung so lange her (ich würde als Referenz hier einmal die DDR nehmen), dass wir schlicht vergessen haben – oder es in einem gewissen Alter einfach nie kennengelernt haben – wie es sich anfühlt, wirklich Entbehrungen in Kauf nehmen zu müssen. Statt zu sehen, was wir alles machen können, beschweren wir uns über TEMPORÄRE Einschränkungen, die auch noch dem Schutz der Bevölkerung dienen.
Ich kann nicht Skifahren gehen, will es aber! Ich sollte nicht ins Ausland fliegen, will aber. Ich soll nicht mehr als einen Haushalt treffen, aber ich will halt. Also suche ich nach dem letzten Schlupfloch in den Regelungen und versuche diese so gut es geht zu umgehen – wer soll es denn nachprüfen? DENN ICH WILL UND ICH WILL JETZT. Und ich bin es gewohnt, dass ich das machen kann, was ich will. ICH WILL HALT – und das reicht als Argument. So viel Egoismus in einem Land, in dem es der Bevölkerung so verdammt gut geht!
Ein Leben in der “Scheinheiligkeit”
Wir spenden Geld ans Kinderhilfswerk, werfen unsere alten Klamotten in den Altkleidercontainer, legen im Supermarkt BIO-Artikel aufs Band und erkaufen uns damit ein gutes Gewissen gegenüber anderen und der Umwelt. Aber wenn wir einmal wirklich den Menschen, die zu unserem direkten Umkreis gehören, etwas Gutes tun könnten, dann ist es zu viel verlangt, ein Stück Stoff über Mund und Nase zu ziehen?
Wenn ein Erdbeben Existenzen irgendwo im Ausland zerstört, dann sammeln wir und haben Mitleid. Aber wenn das kleine Lieblingsrestaurant um die Ecke Insolvenz anmelden muss, weil es nicht öffnen darf, bevor die Zahlen nicht sinken, dann ist es zu viel verlangt, seine Kontakte zu reduzieren?
Wenn die Lieblingsfreizeiteinrichtung, in der so viel Herzblut und Träume stecken, pleite geht oder der Künstler, dem man so gerne zuschaut, am Rande der Existenz steht, weil er nicht auftreten darf, dann ist es plötzlich unzumutbar auf seine Geburtstagsfeier zu verzichten?
Wir beklagen den Krieg und dass Menschen ihr Zuhause verlieren und fühlen uns in unseren sicheren und gut ausgestatteten Wohnungen mit all unseren Sachen, fließend Wasser und Strom eingesperrt?
Wir jammern so oft, dass wir als einzelner Mensch so wenig ausrichten können. Und jetzt könnten wir es und nutzen diese Power nicht?
Wo ist denn da die Logik?
Die Botschaften dahinter
Wenn die Regierung bittet, auf Wintersport zu verzichten, dann tut sie das nicht, weil sie Menschen einsperren möchte oder plant, den Anteil der Übergewichtigen in der Bevölkerung zu erhöhen.
Es ist nicht das draußen sein an sich. Es ist das draußen sein ohne Maske und Abstand in mehr als zwei Haushalten, das kritisiert wird. Außerdem kommt es bei Wintersportarten leicht zu Unfällen und schweren Verletzungen, die stationär behandelt werden müssen. Diese Bitte kommt also auch deshalb, weil durch so eine Verletzung dann ein Bett belegt wird, das vielleicht für einen Corona-Patienten lebensnotwendig gewesen wäre. Oder ein Arzt, der vielleicht endlich einmal wieder einen Abend mit der Familie hätte verbringen können, muss stattdessen ein gebrochenes Bein operieren.
Wenn eine Ausgangssperre verhängt wird, dann bedeutet das nicht, dass die Regierung will, dass man eben fortan bei anderen übernachtet. Sondern die Regierung will, dass die Leute einfach daheimbleiben und keine toristischen Reisen in andere Bundesländer unternehmen. Wenn sie Kontaktbeschränkungen und Maskenpflichten beschließt, dann weil sie Infektionsketten unterbrechen und Ärzte entlasten will. Wenn eine Gemeinde „Bitte bleibt weg“ schreibt, dann nicht, weil sie nicht gastfreundlich ist. Sondern deshalb, weil die Anwohner nicht im Stau stehen wollen, wenn sie in den Supermarkt oder zur Arbeit fahren. Oder weil sie nicht den Müll der Rücksichtlosen wegräumen möchten.
Nichts davon sagt: „Bitte findet Schlupflöcher“ und nichts davon sagt „Wir wollen euch bewusst unterdrücken“. Das sind alles Hilfeschreie von völlig überforderten Politikern und Menschen, denen eine Front aus Ignoranz und Egoismus gegenübersteht. Und die sich einfach nicht anders zu helfen wissen, weil ein „Bitte“ so wenig wert ist und in den Parolen von Querdenkern untergeht.
Und jetzt mal ehrlich. Welcher Mensch aus dieser Front würde eine Behandlung ablehnen, sollte Corona sie selbst oder einen ihrer nächsten Angehörigen schwer treffen?
Wir haben doch alles, warum begreifen wir das nicht?
Wir haben doch für diese Pandemie ein recht dankbares Zeitalter bekommen. Die Technik ist so weit entwickelt, dass wir von Zuhause aus arbeiten können. Dass wir soziale Kontakte jederzeit online pflegen können. Wir können uns kontaktlos hören und sehen. Wir haben dutzende Streamingplattformen zur Verfügung, können uns von einer Bücherwelt in die nächste lesen oder auch hören. Wir haben Tonnen von Gesellschaftsspielen und Puzzles zur Auswahl. Wir haben tolle E-Learning-Programme. Wir können alles, was wir glauben zu brauchen online bestellen. Wo ist denn das Problem?
Und wenn uns wirklich die Decke auf den Kopf fällt, dann verbietet uns niemand, uns draußen zu bewegen. Man bittet uns nur eben auf andere Sportarten zurückzugreifen und Menschenansammlungen zu vermeiden. Ja man glaubt es kaum, Kindern macht auch ein Ausflug in den nächsten Wald Spaß! Wer sich bewegen will, dem ist das Joggen nicht verboten. Wer Krafttraining, Yoga oder Zumba betreiben will, der findet im Internet so viele Tipps dies außerhalb eines Studios zu tun.
Wenn man mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus liegt, kann man doch auch temporär nicht Skifahren gehen. Das ist dann nun einmal so. Dann muss man auch andere Beschäftigungen finden. Und wenn das Bein geheilt ist, dann geht‘s wieder weiter.
Also werdet kreativ, erkundet die kleinen Seitenstraßen eurer direkten Umgebung, lernt eine neue Sportart oder ein Musikinstrument, lernt eine neue Sprache. Sucht Alternativen statt Schlupflöcher.
Das Leben bietet so viel mehr als diese eine Sache, die jetzt eben gerade nicht geht.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu erwähnen, dass mir klar ist, dass es auch viele Menschen gibt, die alleine leben. Und dass Online-Kontakte manchmal nicht ausreichen. Daher sind Treffen mit einem weiteren Haushalt ja auch erlaubt. Und das ist auch vollkommen in Ordnung. Es ist schön und gesund, auch einmal mit einer Freundin spazieren zu gehen und bei einem Kaffee To-Go über Gott und die Welt zu quatschen.
Was mir persönlich noch wichtig ist: Kein Toter ist nur eine Zahl in der Statistik!
Wovon viel gesprochen wird, ist die Sterberate in dieser Zeit. Und davon, dass diese ja auch nicht höher sei, als die Zahl der „regulären jährlichen Grippetoten“. Aber ist das wirklich der ausschlaggebende Punkt? Jeder, der an den Folgen einer Corona-Infektion verstirbt (und natürlich auch jeder, der an einer anderen Ursache verstirbt) war doch eine Mutter oder ein Vater, eine Oma oder ein Opa, eine Tochter oder ein Sohn, ein Geschwisterkind, ein Freund – kurz – jemand, der in irgendeiner Form in ein soziales Gefüge eingebunden war und geliebt wurde. Und jeder Tod schmerzt die Menschen um ihn herum und verändert deren Leben. Dieser Mensch wäre ohne Corona vielleicht noch da. Man hätte noch weitere schöne Momente mit ihm verbringen und Erinnerungen mit ihm schaffen können.
Ich verstehe schon, dass Menschen, in deren Umfeld vielleicht keiner schlimm erkrankt ist, das nicht so nachempfinden können. Aber allein durch gesunden Menschenverstand kann man es sich doch herleiten, dass jeder Verstorbene eine Lücke hinterlässt. Insofern ist es irrelevant, ob dieser Tod statistisch markant war oder nicht; er wäre zu diesem Zeitpunkt unter Umständen vermeidbar gewesen.
Deine Einschränkung von Sozialkontakten und deine Maske im Bus können für die Oma eines anderen unter Umständen bedeuten, dass sie die Geburt ihres Urenkels noch erlebt.