Kapitel 5 “Die Wolfsmörderin” : Die Bauers waren eine Bilderbuchfamilie, doch der Wolf hatte die Idylle ihres Dorfes zerstört. Die Szene vor ihren Augen verschwand einfach nicht.
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Es war ein kühler Abend in Kleinwolfenberg. Es wurde langsam Winter, die Mäntel wurden länger, die Stiefel dicker und ohne Kopfbedeckung sah man nur noch wenige aus dem Haus gehen. In der Stube der Bauers flackerten eben die ersten Flammen im Kamin und erfüllten den Raum mit angenehmer Wärme. Auf dem Tisch stand ein Topf Gemüsesuppe und drum herum löffelten Herr Bauer, Frau Bauer und die Tochter Lisa ihr Abendbrot.
Ein Bild wie aus einem Märchenbuch gaben sie ab. Man hätte nur durch das kleine, runde Fenster in die Stube schauen und die lächelnden Gesichter auf Papier übertragen müssen. Es war ein typisches Bild in Kleinwolfenberg. Doch von außen konnte man die Anspannung in den Stimmen nicht bemerken. Da konnte man sich noch so sehr die Nase an der Scheibe platt drücken, man sah nur, aber man hörte nicht.
Es war nun genau eine Woche her, dass man den Wolf gefunden hatte. Eigentlich hätte man es langsam vergessen können, aber man tat es nicht. Wenn in Kleinwolfenberg einmal etwas passierte, dann schlug es Wellen. Nicht mehr wegzudenken. Vermutlich würde man immer darüber reden. „Weißt du noch, damals vor zwei Jahren und 45 Tagen, als…“ – „Ja natürlich weiß ich noch! Es war…“; Und ähnliche Sätze würde man hören.
Frau Bauer räumte die Teller vom Tisch und stellte sie in die Spüle. Sie drehte das Wasser auf und sah hinaus auf den verlassenen Marktplatz. Irgendetwas geschah mit dem Dorf, das sie so liebte. Irgendetwas Grausames. Wie konnte ein Mensch so skrupellos sein? Es widerte sie an, wenn sie sich eine vermummte Gestalt mit einem Messer vorstellte, die brutal auf ein unschuldiges Tier einstach. Alles hatte der Tiermörder ruiniert. Gefühlt die ganze Welt wusste davon und sie litten. Der letzte Besucher ihrer Pension war gestern abgereist, von nun an würden höchstens die Schaulustigen kommen. Alle anderen hatten zu viel Angst.
Das Wasser lief aus dem Becken und strömte über den Fußboden. Erschrocken löste sich Frau Bauer vom Fenster und stellte den Hahn aus. Dann ging sie zum Schrank und nahm einen Eimer und einen Lappen heraus, bückte sich und begann das Wasser aufzuwischen. Sie wischte, wrang das Tuch aus und wischte weiter. Sie kam sich vor wie der Arzt, der den Wolf mit sich genommen hatte. Tupfen, tauchen, wringen, tupfen…
Es war ein schönes Tier gewesen. Kräftig und mit matt glänzendem Fell. Grau und majestätisch. Doch der Tod übertrumpfte Schönheit und Anmut.
Frau Bauer öffnete die Tür und kippte den Inhalt des Eimers auf die Straße. Niemand war mehr unterwegs. Es gab kaum Beleuchtung. Viele fürchteten sich ohnehin vor der Nacht, jetzt erst recht.
Noch einmal leuchtete die Szene vor ihren Augen auf. Das tote Tier, der Tierarzt, der sich vorsichtig die blutigen Handschuhe von den Fingern zog und sich mit nachdenklichem Blick der Bevölkerung zuwandte. Und dann der Bürgermeister, wie er mit zitternden Fingern auf die blutige 1 am linken Hinterfuß deutete.