Kapitel 4 “Die Wolfsmörderin”: Noch nie hatte ihr Messer sein Ziel verfehlt. Auch nicht in dieser Nacht, als sie es auf den Wolf warf. Bedächtig ritze sie ihre Nachricht in sein Bein.
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Niemand würde sie vermuten. Niemand wusste, dass sie es war, die sich das Ziel gesetzt hatte sich zu rächen. Nein, sie kannten sie nicht, sie würden alle nur ihren Zorn spüren. Zum gesehen werden war es zu spät.
Es war Oktober. In zwei Monaten musste das Werk vollbracht sein.
Zum wohl hundersten Mal zog sie das Foto aus der Tasche, strich sanft über die wellige Oberfläche und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Es tat so weh, so unglaublich weh. Es stach ihr ins Herz. Hoffentlich würden ihre Opfer den selben Schmerz spüren, wenn ihr Messer sie traf. Sie legte das Foto auf den Tisch und zog das Messer aus ihrer Tasche. Oh ja, das Messer, sie hielt es ins fahle Licht der Lampe und betrachtete es. So schön, aber doch so sündig war die Klinge.
Immer noch klebten Blut und Schuld daran. Sooft sie es auch polierte, die Oberfläche war immer noch überzogen von tausend rostroten Punkten, haarfein. Blutstropfen aus Zeiten des Wahnsinns, aus Zeiten des Kampfes, des Mordens und der Verletzungen. Jetzt würde frisches Blut daran kleben. Und frisches Blut konnte man fortwischen, Erinnerungen aber hielten für die Ewigkeit, keine Verdrängung.
Über die Zeit, in der sie selbst den Schmerz der Klinge spüren wollte, war sie hinweg. Rache wuchs, Hass auf alle, die damals dabei gewesen waren und alle, die die Schuld in ihrem Blut mit sich trugen. Oh, wie sie sie hasste, sie verabscheute sie. Aber sie würden bekommen, was sie verdienten, sie würden leiden!
Sie stand langsam auf, fuhr liebevoll mit dem Finger über die Klinge des Messers und lächelte, dann steckte sie es zusammen mit dem Foto in die Brusttasche ihrer Jacke. Sie zog die schwarze Kapuze tief ins Gesicht und verließ die Hütte.
Es war eine stürmische Nacht. Der Wind peitschte ihr Regen ins Gesicht, die Bäume wirbelten im Schwarz der Nacht als Schatten durch den Himmel. Dahinter der Mond; nicht mehr ganz rund, mehr als hätte jemand einen Teil von ihm mit einer tiefschwarzen Decke verhüllt. Dazwischen trudelten Fetzen von Wolken unstet an ihm vorbei. Der Regen würde hinderlich sein, aber nichts würde sie dazu bringen jetzt aufzugeben.
Sie zog die Jacke zu und wandte sich nach links. Ein hastiger Schrittwechsel. Es war kurz vor Mitternacht, ihr blieben noch wenige Minuten. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ein Heulen ging durch den Wald. Die Frau lächelte wieder.
Sie erreichte das Ufer des Sees. Dort saß er auf der anderen Seeseite und schleckte begierig Wasser. Sollte er doch trinken, sollte er doch ersaufen an all dem Wasser… Nein, ersaufen sollte er nicht, denn er sollte durch ihre Hand sterben. Sie wollte ein Zeichen setzten für das ganze prüde Dorf!
Sie zog vorsichtig ihr Messer aus der Tasche, ihre Finger zitterten. Sie wartete. Und dann endlich bäumte sich der Wolf auf, ein Heulen drang aus seiner Kehle, ihre Hand war nun ruhig als sie zielte. In ihrem Kopf zählte sie langsam bis drei, dann warf sie die Klinge mit Präzision und Kraft. In der Dunkelheit verlor sie sich schnell. Trotzdem, sie würde ihr Ziel nicht verfehlen, hatte sie noch nie.
Der Wolf auf der anderen Seeseite sank in sich zusammen, ganz still starb er und als er tot war, da stand die Frau neben ihm und zog das Messer aus dem Hals des Tieres. Sie wischte lächelnd das Blut von der Klinge und beugte sich noch einmal zu dem Wolf hinunter, zog das linke Hinterbein hervor und schabte das Fell ab, bis nur die blanke Haut sichtbar war, dann stieß sie ihr Messer hinein. Bedächtig ritzte sie die Botschaft, die den Kleinwolfenbergern das Grauen ins Gesicht brennen sollte.