Kapitel 3 “Die Wolfsmörderin”: Mit dem Tod des Wolfes war Kleinwolfenberg seiner Grundlage beraubt. Der weißen, unschuldigen Harmonie. Der Wolf war tot und das ließ sich nicht wegdiskutieren.
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Von diesem Tag an, als der Tierarzt mit Hilfe des Barons und des Bürgermeisters den Wolf in Decken hüllte und mit sich in die Stadt nahm, war Kleinwolfenberg seiner Grundlage beraubt. Der weißen, unschuldigen Harmonie.
In den Köpfen der Dörfler spielte sich pausenlos das Szenario ab. Sie stellten sich gegenseitig Fragen, einige philosophierten, andere redeten nur Unsinn. Doch eines verband sie alle – die Angst. Die Entdeckung des Bürgermeisters, dieses winzige Detail, schwebte wie eine graue Wolke über dem Ort. Die Bedrohung verfolgte die Kleinwolfenberger auf Schritt und Tritt.
Kleinwolfenberg hatte seinen Namen wegen der Tiere bekommen. Vor Jahren hatte es viele Wölfe im Wald gegeben. Große, majestätische Tiere. Doch die Wölfe waren anders gewesen, fast zahm. Niemals in der Geschichte, so hieß es überall, war Kleinwolfenberg von den Tieren angegriffen worden. Nie war ein Mensch gebissen worden. Es schien, als wurden die Wölfe von der Idylle ebenso verzaubert, wie jeder Mensch.
Wo ist man auch so respektvoll, tolerant und höflich wie in Kleinwolfenberg?
Die Wölfe bildeten also den einen Teil des Dorfes, die Bürger steuerten die zweite Hälfte bei. Aber jetzt hatte das Haus zu wackeln begonnen. Man hatte einen Fundamentstein gewaltsam herausgebrochen. Irgendjemand hatte das ungeschriebene Gesetz zwischen Mensch und Tier mit Füßen getreten – der Wolf war tot und das war etwas, das sich nicht unter den Tisch kehren ließ.
Überall wurde es erzählt. Der Busfahrer trug es nach Großwolfenberg, die Dame aus dem Frisörsalon berichtete es aufgeregt ihrer Schwester in Frankfurt per Telefon, die wiederum schrieb ihrem Mann, der gerade geschäftlich in China war. Und alle wussten von der Entdeckung des Bürgermeisters und waren angespannt und nervös. Denn sie alle konnten eins und eins zusammenzählen und sie alle wollten nicht glauben, dass Kleinwolfenberg so etwas verdiente.
„Es ist nicht gerecht!“, „Dieser schöne Ort!“, „Warum überschattet ein solches Desaster die Beschaulichkeit?“, wurde da gesagt, aber keiner hinterfragte, keiner überlegte. Es gab nur Angst, deren Funke auf jeden übersprang, der die Geschichte hörte.
In jenen Tagen war ein Mann zum Helden aufgestiegen in Kleinwolfenberg. Er wurde zur Schnittstelle zwischen dem kleinen Dorf und dem Ort Großwolfenberg. Der Busfahrer, der dreimal am Tag Neuigkeiten brachte wurde ständig erwartet.
Seit dem Tod des Wolfes war nun fast eine Woche vergangen.
War der Mörder ein Bürger? Man kannte sie doch alle so verdammt gut. Kleinwolfenberg sollte einen Menschen beherbergen, der Wölfe erstach? Nein, das konnte nicht sein. Trotzdem grüßte man den Baron noch freundlicher, tröstete Frau Prignitz noch länger und kaufte Bauer Müller noch mehr Milch ab. Nur für den Fall, nur damit man auf der sicheren Seite war und mit Sicherheit kein Tatmotiv lieferte.