Kapitel 2 “Die Wolfsmörderin”: Der Wolf ist tot! Und das löst in Kleinwolfenberg von einem auf den anderen Moment Panik aus. Dann bemerken sie etwas, das alles noch verschlimmert.
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Blut tropfte in dicken Tropfen auf Stein. Es benetzte die Erde als schwarzer Fleck in der Nacht. Das Tier lag da, starr, tot und einsam. Noch einsam.
Langsam zog die Sonne über die Baumwipfel herauf und überschüttete das kleine Dorf mit Herbstlicht. Es fiel auf rote Dächer, durch blank geputzte Scheiben und kitzelte die Kleinwolfenberger in Augen und Nase. Noch zwei Minuten, dann würde Bauer Müllers Hahn krähen und das Dorf zu Leben erwecken. Und alles würde erwachen, fast alles. Eine Seele würde von nun an ewig schlafen und nichts von alledem mitbekommen, was nun passieren würde.
Der Wolf war tot.
Und als der Baron auf den Marktplatz trat und das Tier dort liegen sah, war alles in einem Augenblick zerschlagen.
Die Idylle, der Frieden, die Offenheit. Alles zerstört, nur weil dort ein erstochenes Tier auf dem Platz lag, wo sonst der Bäcker auf dem Markt die Semmeln feilbot?
Ja, alles zerstört. Nur deshalb.
Langsam fanden sich die Schaulustigen ein. Mütter hielten den Kindern die Augen zu. Diesmal fuhr der Morgenbus leer und die Menschen blieben um den Wolf versammelt, auch als mit dem Mittagsbus ein Mann nach Kleinwolfenberg kam. Schwarz gekleidet im Anzug und mit Zylinder und einem Koffer in der behandschuhten Hand.
Wortlos winkte er den Baron und den Bürgermeister heran, und gemeinsam rollten sie den Kadaver auf den Rücken.
Der Mann war ein Tierarzt, der so manches Mal bei Bauer Müllers Kälbergeburten geholfen hatte und auch sonst der Freund aller Fiffis und Maunzis von Klein- und Großwolfenberg war.
Der Mann öffnete seinen Koffer, zog die Handschuhe von den Fingern und tauschte sie gegen ein Exemplar aus Gummi ein.
Er verlangte nach Wasser und einem Handtuch.
Seine Stimme war ruhig, während die Kleinwolfenberger kaum zu atmen wagten, aus Angst, der Schock könnte ihnen seltsame Geräusche entlocken.
Die kleine Tochter der Bauers, Lisa, 10 Jahre und mit strohblonden Zöpfen, weinte in den Rock ihrer Mutter.
Sie mochte Tiere.
Man reichte dem Doktor einen Eimer und ein Tuch, und er begann, das vertrocknete Blut von der Wunde zu wischen. Er tupfte, tauchte den Lappen zurück ins Wasser, wrang ihn aus und tupfte weiter. Keiner sagte ein Wort.
Schließlich richtete sich der Arzt auf, zog die Gummihandschuhe von den Händen und wandte sich der Menge zu.
„Ein erstaunlicher Stich. Tief und genau getroffen. Von vorne in die Halsschlagader. Die Waffe – ein Messer, vermute ich – wurde mit großer Kraft gestoßen!“
Hinter dem Arzt ertönte ein kurzer Aufschrei.
Der Bürgermeister kniete dort immer noch am Boden und deutete auf das leicht angewinkelte linke Hinterbein des Wolfes.
Alle Blicke wandten sich dem Bürgermeister zu, der eine Mischung aus Furcht und Ratlosigkeit ausstrahlte und in dessen Kopf sich langsam eins ans andere reihte und der realisierte, was gerade geschah und was dort als blutrote Linie vor seinen Augen verschwamm.