Kapitel 1 “Die Wolfsmörderin” : Die Bewohner von Kleinwolfenberg sind einfach zufrieden mit Ihrer Idylle. Der Fortschritt ist an ihnen einfach vorbeimarschiert und das ist auch gut so.
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Kleinwolfenberg liegt genau 10 Kilometer und 578 Meter vom Ortsschild Großwolfenbergs entfernt am Rande eines kleinen Wäldchens. Das beschauliche Dörflein zählt 63 Einwohner, 41 Hunde, 26 Katzen und allerlei anderes Getier.
Jeder kennt in Kleinwolfenberg jeden, kann Namen und Hunde ihren Besitzern zuordnen und weiß, was derjenige in seinem Leben macht.
So ist zum Beispiel Frau Mühlbach jeden Donnerstag in der Stadt zur Maniküre. Ihren Pudel bringt sie derweil bei Herrn Gröber und seinem Dackel Bobbi unter. Ihre pinken Nägel gefallen nicht jedem, aber sie ist stolz auf dieses Alleinstellungsmerkmal. Der Metzger Kühner und seine Frau geben außer den Katzen Funki, Flori und Fredi noch Karl-Kuno, dem Schäferhund, Asyl.
Und Frau Marill hat ihren Mischling Lucien vor drei Jahren in den Straßen eines Pariser Vorortes aufgelesen.
In Kleinwolfenberg ist es schwer, ein Geheimnis zu bewahren, das stört aber auch keinen.
Es interessiert kaum jemanden, dass besagtes Fräulein und ihr Hündchen große Probleme mit dem Zoll hatten oder dass Baron von Werrer den Adelstitel unter normalen Umständen nicht tragen dürfte.
Er war vor zehn Jahren mit einer Tochter aristokratischer Abstammung verlobt gewesen und hatte sich auf seinen Titel gefreut.
Kurz vor der Hochzeit wollte die feine Dame aber auf einmal nicht mehr in den Bund der Ehe eintreten und Monsieurs Traum vom berühmten „von“ löste sich vor seinen Augen in hundert kleine Schnapsgläschen auf.
Aber wie das nun einmal so ist, sah er nicht ein, warum er verzichten sollte. Er fühlte sich in den Stand eines Barons hineingeboren, und so fand er das Adelsprädikat für sich nur angemessen.
Egozentrik hin oder her, in Kleinwolfenberg bricht keinem ein Zacken aus der Krone, wenn er bei einer Begegnung mit dem schicken Herrn kurz den Hut lupft und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen „Guten Tag, Herr Baron“ säuselt. Und wenn man damit zu einer guten Stimmung beitragen kann, ist das Lächeln ohnehin da und man tut Herrn Werrer den Gefallen gerne.
Vielleicht nicht ganz so gerne, aber genauso aufmerksam, hört man sich zweimal täglich Frau Prignitz’ Geschichte über ihre Tochter an, die mit ihrem Freund in die USA ausgereist ist. Und wenn man ihr danach die Hand auf die Schulter legt und sagt, wie leid es einem tut, dann ist die lockige Mittvierzigerin ein Stück erleichterter.
In Kleinwolfenberg liebt man nun mal den Frieden und die Freundschaft. Deshalb sind solche kleinen Dienste eine Selbstverständlichkeit. Die Kleinwolfenberger sind eine eingeschworene Gesellschaft, die auch im 21. Jahrhundert noch an den guten alten Traditionen festhält.
Nur dreimal am Tag fährt ein Bus in die Stadt. Einer bringt die Kinder morgens nach Großwolfenberg in die Schule und Briefe, Pakete und bestellte Waren aus der Stadt ins Dorf. Ein eigener Postbote würde sich schlichtweg nicht lohnen. Der Handyempfang ist furchtbar, Internetkabel wurden hier nicht verlegt.
Der Mittagsbus verfrachtet die Schüler wieder nach Hause, und der Abendbus bringt die Touristen zurück ins Hotel.
Die Bauers leiten eine kleine Urlaubspension, in der sich oftmals Außenstehende einquartieren, die keine Lust auf Stress, Lärm und Menschenmassen haben.
Die Besucher bringen Abwechslung und Geschichten von außen. Dann, und nur dann, fällt einmal die Mauer um das Dorf.
Der Fortschritt ist einfach daran vorbeimarschiert, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen und das war gut so.
Gut war auch, dass das Dorf wirklich alles hatte, was man in einer Großstadt fand. Einen kleinen Krämerladen, auch „Supermarkt“ genannt, einen Bürgermeister, eine Kirche mit Pfarrer und einen Marktplatz.
Doch hatte das Dörflein eben nur 63 Einwohner, die alle ihre Milch vom Bauern und ihre Brötchen vom Bäcker holten, die selbstgemachten Käse und Schinken liebten und einfach zufrieden waren mit ihrer Idylle.