Wir sollten uns nicht in eine Rolle drängen lassen, in der wir uns selbst nicht sehen. Erwachsen zu werden heißt nicht, dass man das Kind in sich verlieren muss.
“Wir sollten uns nicht in eine Rolle drängen lassen, in der wir uns selbst nicht sehen. Erwachsen zu werden heißt nicht, dass man das Kind in sich verlieren muss”
Der Reißverschluss
„Einen Erwachsenen nennt man jenes Krüppelwesen, das in einer entzauberten Welt so genannter Tatsachen existiert“ – Michael Ende.
Die junge Frau saß, den Rücken der Tür zugewandt, auf einem Stuhl und hatte den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Durch die staubigen Scheiben sah sie einen wolkenverhangenen Himmel. Um sie herum war die Welt in Grautönen gemalt. Sie wirkten jedoch nicht edel, sondern eintönig und fade. Manchmal, wenn sie in dieser Welt festsaß, dann wünschte sie sich, dass der Himmel einen Reißverschluss hätte. Diesen könnte sie mit voller Kraft anpacken, aufziehen und die Sonnenstrahlen hindurchlassen. Denn um Farben zu sehen, dafür braucht es Licht!
Die junge Frau saß ganz aufrecht, den Rücken grade, die Hände im Schoß verschränkt, die Beine einmal überkreuzt. Ihre Kleidung – ein Hosenanzug – war sauber und gebügelt, die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Neben dem Stuhl stand eine Aktentasche.
Die Tür ging auf und die Frau drehte sich um, setzte den Anflug eines Lächelns auf. „Sie sehen gut aus. Sehr seriös, sehr erwachsen. Wie fühlen Sie sich?“, fragte die Dame in der Tür.
„Gut“, log die Frau.
„Das freut mich“, sagte die Dame, die hereingekommen war. „So soll es sein. Jetzt können wir Sie endlich in die Welt entlassen. Sie werden da draußen jetzt wunderbar klarkommen“.
Die junge Frau sah wieder durch das Fenster auf die Wolkendecke. Sie stand auf und die Absätze ihrer Schuhe klackten, als sie auf die andere Dame zuging.
„Kopf hoch, Blick nach vorne!“, mahnte die Dame und die junge Frau folgte der Anweisung. „Ich bin wirklich stolz auf Sie! Sie haben es uns wirklich schwer gemacht mit all diesen Flausen im Kopf“, beschrieb die Dame und zupfte ein Fussel von der Schulter der jungen Frau. „Wo werden Sie hingehen?“
„Was können Sie mir denn empfehlen?“, fragte die junge Frau.
„Nun ja, die nächstgelegene Stadt ist nur ein paar Minuten von hier. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie hin. Dann können Sie dort nach etwas Neuem suchen“, bot die Dame an.
„Vielen Dank!“, antwortete die junge Frau.
Die Autofahrt verlief still. Die junge Frau blickte aus dem Fenster, sah links und rechts Abzweigungen vorbeirauschen, die verlockend aufblitzten, doch sie fuhren geradeaus vorbei.
Schließlich hielt die Dame auf einem Parkplatz. Die junge Frau stieg aus, bedankte sich, nahm die Aktentasche und schlug die Autotür zu. Sie zog die Schultern zurück und stöckelte in Richtung Innenstadt davon. Hochhausfassaden aus Beton wuchsen links und rechts am Straßenrand und schienen sich zunehmend zu verdichten.
Das hier war es also, das Erwachsensein von dem sie alle redeten. Diese Tatsachenwelt von der es hieß, man komme so gut darin zurecht, wenn man sich auf sie konzentrierte. Das sogenannte „Wesentliche“, das reale Leben in dem auch sie ihren Platz finden würde.
Es gefiel ihr nicht. Wo war das Leuchten, der Zauber, die Auszeit von dem Ganzen?
Sie lief um die Hochhausblöcke herum, die Straße hinunter und suchte, was das Leben noch so für sie bereithalten würde. Aber in der einfarbigen Betonflut konnte sie nichts finden, für das es sich lohnte stehenzubleiben.
Schließlich kam sie an einem Spielplatz. Ein Kind saß auf der Schaukel und ließ sich von seiner Mutter anschubsen. Jedes Mal, wenn es aufstieg, untermalte das Kind den Flug mit einem „Hui“. Die junge Frau blieb stehen und beobachtete die Szene einige Sekunden. „Hui“…. „Hui“…. „Hui“. Die Haare des Mädchens flogen ihm ins Gesicht.
Die junge Frau trat durch das Tor und ging auf die zweite, freie Schaukel zu. Die Absätze ihrer Schuhe sanken in der feuchten Erde ein. Sie zog die Schuhe aus. Schließlich setzte sie sich und begann auf der Schaukel langsam nach vorne und hinten zu wippen.
Das kleine Mädchen drehte den Kopf zu ihr und grinste sie mit einer Zahnlücke an. Dann sauste es an ihr vorbei und rief „Hui!“
Die junge Frau stieß sich vom Boden ab, lehnte sich nach hinten und vorne und verlieh der Schaukel Schwung.
„Sind Sie nicht ein wenig alt für diese Spielereien?“, fragte die Mutter des Kindes und rümpfte die Nase. Doch die junge Frau hörte sie nicht, da der Wind in ihren Ohren pfiff, als sie mit der Schaukel höher stieg. Ihr Pferdeschwanz schlug ihr ins Gesicht, „Hui!“
Und als die junge Frau immer höher und höher stieg, kam sie der Wolkendecke des Himmels näher und näher. Sie streckte sich, griff nach dem Ende des Reißverschlusses, griff einmal ins Leere und bekam beim zweiten Versuch das Metallteil zu fassen. Sie zog mit aller Kraft daran.
Ein kleines Loch tat sich auf, das wuchs und schließlich groß genug war, um einen Strahl Sonne hindurchzulassen. Der Strahl fiel genau auf den Moment, der zu leuchten begann. Und die junge Frau wusste, dass Sie in der Welt nun wunderbar klarkommen würde.
„Wenn wir ganz und gar aufgehört haben Kinder zu sein, dann sind wir schon tot“ – Michael Ende