Dieser alte Mann, der Tag für Tag auf der Bank sitzt und versucht einen Zauberwürfel zu lösen – Was tut er da eigentlich? Die Protagonistin findet es erst heraus, als sie sich wirklich für diesen Menschen interessiert.
“Es gibt so viele Menschen auf der Welt, wir ‘sehen’ aber nur einen Teil davon. Erst mehrmaliger Kontakt mit einem anderen Menschen lässt ihn uns im Gedächtnis bleiben.”
Der Mann mit dem Zauberwürfel
Wir Menschen versuchen seit jeher zu begreifen, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Wir untersuchen es vom medizinischen Standpunkt aus, wissen bestens über die Physis und auch die Psyche Bescheid. Wir suchen nach Mustern, Gemeinsamkeiten und Beispielen. Einfach, um irgendetwas Greifbares zu haben, das uns eine Definition des Wortes „Mensch“ gibt.
Keine Sorge, ich werde nicht weiter darüber philosophieren. Diese Überlegung ist nur die Einleitung einer Geschichte…
Ich sah den alten Mann nun seit fünf Tagen dort auf der Bank sitzen und diesen Zauberwürfel lösen. Sie wissen schon, diesen mit den 3×3 bunten Feldern, die man in verschiedene Richtungen drehen muss muss, mit dem Ziel, jeder Seite des Würfels eine Farbe zu geben. Er drehte das Spielzeug so schnell in seinen Händen, dass man hätte meinen können, dort sitze ein Kind, das sich ausprobiert. Untere Reihe nach links, nach rechts, mittlere Reihe nach oben, … dann war ich vorüber gegangen. Er saß dort immer nur morgens, wenn ich abends von der Arbeit zurückkam, war er verschwunden.
Normalerweise achte ich im Alltag nicht so viel auf einzelne Menschen und wenn mir jemand auffällt, dann hat das keine längerfristigen Auswirkungen auf den Rest meines Tages. Wenn es ein wirklich auffälliges Verhalten ist, schaffen es Menschen manchmal in meine Erzählungen und dann lache ich gemeinsam mit meiner Kollegin über die Situation und damit ist sie abgehandelt. Diesen Mann konnte ich nicht abhandeln. Er saß dort jeden Morgen wenn ich zur S-Bahn eilte und drehte an diesem Würfel. Am Montag fand ich das Bild des alten Mannes mit dem Kinderspielzeug interessant, am Dienstag den Fakt, dass er dort schon den zweiten Tag saß. Am Mittwoch fragte ich mich, wie schwer es denn wohl sein konnte diesen Würfel zu lösen, am Donnerstag, warum er keine Anleitung dafür suchte. Am Freitag ging ich ganz langsam vorbei. Das war der Tag an dem der alte Mann aufsah und mich anlächelte.
Als ich am Samstag an ihm vorbeikam, um zum Einkaufen zu gehen, grüßte er mich mit „Guten Morgen“, am Sonntag schließlich setzte ich mich zu ihm. Ich gebe zu, dass ich es vor allem deshalb tat, weil ich wissen wollte, was hinter seinem Verhalten steckte. Fand es aber zu unhöflich ihn direkt danach zu fragen. Er übernahm den Gesprächsbeginn. „Sie wohnen wohl hier in der Nähe. Ich habe Sie die ganze Woche hier vorbeilaufen sehen. Sie sehen aus, als hätten Sie viel Stress“, keine Frage, nur Feststellungen.
„Ja, schon. Ich arbeite viel“, antwortete ich.
„Ich habe auch viel gearbeitet. Zuerst, weil man als Junge nach der Schule eben arbeitet, später um eine Familie zu ernähren und als die Kinder aus dem Haus waren deshalb, weil es vom Gesetz her so sein musste, um Rente zu bekommen. Dazwischen war ich im Krieg – auch Arbeit, aber eine für die viele mit dem Leben bezahlten. Ich nicht“, erzählte der Mann.
„Als was haben Sie gearbeitet?“, fragte ich.
„Als Hausmeister. Schnee räumen im Winter, Rasen mähen im Sommer, kleinere Reparaturen, putzen, Ansprechpartner für alles. Und trotzdem eben nur der Hausmeister“, sagte der Mann.
„Facility Manager nennt man das heute“, warf ich ein.
„Pff, das kann ich nicht einmal aussprechen“, gab der Mann zurück und drehte seinen Würfel. Mittelteil nach vorne, unterste Reihe zweimal nach links, rechte Seite dreimal nach rechts.
Ich sah auf seine Hände.
„Sie wollen wissen wieso ich das mache“, wieder keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ja, schon“, antwortete ich.
„Es muss etwas dahinter stecken, nicht wahr? Niemand sitzt eine Woche lang jeden Tag auf einer Bank und dreht einen Zauberwürfel nur weil er Spaß daran hat und das Wetter einfach herrlich ist, hm? Ich muss also verrückt sein“, der Mann sah mich herausfordernd an.
„Ähm“, ich wusste nicht so recht, auf was er hinaus wollte.
„Sicher haben Sie Freunden von dem verrückten alten Kerl auf der Bank mit dem Würfel erzählt und wie er sich abmüht dieses Teil zu lösen“, Feststellung.
„Ja, das habe ich. Sie sind mir aufgefallen“, entgegnete ich wahrheitsgetreu.
„So. Und jetzt erzähle ich Ihnen, dass ich vor einer Woche die Diagnose Krebs erhalten habe und dass ich es auch als Kind bisher nie geschafft habe diesen Würfel zu lösen und ich nicht sterben will, mit dem Gefühl diese Kleinigkeit nicht hinbekommen zu haben“, sagte der Mann ruhig. Obere Reihe nach links, untere nach rechts, rechte Seite nach oben.
„Das tut mir leid“, sagte ich, als der Mann aufhörte die Teile herumzudrehen und nun den gesamten Würfel betrachtete, als könne er voraussehen, welche Teile er in welche Richtung drehen musste, um endlich an sein Ziel zu kommen.
„War das eine Antwort, mit der sie gerechnet hätten?“, Frage, keine Feststellung.
„Nein“, antwortete ich wieder vollkommen ehrlich.
„Sie dachten ich bin verrückt“, Feststellung.
„Ich habe mir einen ganzen Haufen Fragen gestellt. Wissen Sie, hätte ich Sie nur am Montag gesehen, wären Sie einfach nur der ältere Herr mit dem Zauberwürfel gewesen. Nichts besonderes“, versuchte ich zu erklären und der ehrlichen Antwort zu entgehen, dass ich natürlich dachte, er sei verrückt. „Das ist wie in der Werbung. Ein Produkt wird erst nach mehreren Werbekontakten interessant.“
Fast im selben Moment wünschte ich mir, ich hätte das nicht gesagt. „Das ist ein schlechter Vergleich. Sie sind natürlich kein Produkt“, ruderte ich zurück.
„Doch, doch. Sie haben schon Recht. Wir Menschen sind wie Werbung. Keiner interessiert sich tiefergehend für irgendjemanden auf der Straße, wenn er nichts besonderes an sich hat und man nicht mehr als einmal mit ihm in Kontakt kommt. Dafür gibt es schlichtweg zu viele Menschen. Sie könnten mir 20 Menschen hinstellen und ich könnte ihnen nicht die 10 unter ihnen identifizieren, die heute an mir vorbeigelaufen sind. Nur Sie. Denn Sie laufen jeden Tag hier vorbei“, griff der Mann mein Beispiel auf. Jetzt drehte er die mittlere Reihe des Würfels kontinuierlich nach rechts, als könne er damit den gesamten Aufbau des Würfels steuern.
„Ich habe noch ein paar Wochen und dieser Würfel ist bei Weitem nicht das Einzige, das unerledigt ist. Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas. Als meine Frau vor 10 Jahren bei einem Autounfall starb lag dieser Würfel in ihrer Einkaufstasche mit einer Karte für mich daran. Auf der stand: ,Weil du so gerne knobelst`. Ich kann doch nicht zu ihr kommen und ihr erzählen, dass ich es nicht geschafft habe das Ding zu lösen“. Ich hörte wie seine Stimme kaum merklich brach. Jetzt drehte er die unterste Reihe kontinuierlich gegen den Uhrzeigersinn.
Ich selbst habe mich nie mit einem solchen Würfel beschäftigt. Ich hatte ihn immer nur bei einer Mitschülerin gesehen damals. Sie wusste, wie man ihn löste und versuchte schließlich nur noch einen persönlichen Rekord aufzustellen. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und suchte im Internet nach der Lösung des Würfels.
„Soll ich Ihnen etwas sagen? Dieser Würfel kann gar nicht durch Probieren gelöst werden. Da steckt ein System dahinter“, erklärte ich ihm. Und dann wies ich ihn Schritt für Schritt an, sagte ihm welche Reihe er in welche Richtung drehen und von welcher Seite er den Würfel betrachten sollte. Nach einem missglückten Versuch und 20 Minuten später hielt der Mann den Würfel in der Hand – jede der sechs Seiten zeigte eine vollständige, farbige Fläche – rot, grün, gelb, blau, weiß und orange. Der Mann drehte den fertigen Würfel andächtig in der Hand, als würde er auf jeder Seite erwarten, dass ein Stein doch noch in einer anderen Farbe fehl am Platz war.
„Jetzt müssen Sie nur noch üben schneller zu werden“, scherzte ich.
„Sind Sie übergeschnappt? Ich dreh keine Reihe mehr an dem Würfel!“
Er hielt den Würfel hoch und rief: „Schau, ich habs geschafft! Ziel erreicht!“
Dann sah er mich hoffnungsvoll an: „So und welchen unerledigten Punkt arbeiten wir als nächstes ab?“