Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie er war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, denn das, was er heute ist, das passt nicht mehr zu ihm. Er kann nicht mehr lachen, er kann nicht mehr glücklich machen, er ist verstummt…
“Manche Freundschaften bestehen über Alter und Barrieren hinweg. Und sie beeinflussen unser ganzes Leben – nachhaltig!”
Der Glücklichmacher
Zehn Jahre können einen Menschen bis zur Unkenntlichkeit zerstören, selbst einen Menschen, der andere immer glücklich gemacht hat, selbst einen Menschen, der so stark war, dass man glaubte er wäre für ewig jung.
Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie er war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, denn das, was er heute ist, das passt nicht mehr zu ihm. Er kann nicht mehr lachen, er kann nicht mehr glücklich machen, er ist verstummt.
„Mach mal die Augen zu!“, sagte er und der kleine Junge vor ihm auf der Kommode kniff seine Augen so fest zusammen, wie es nur ging. Dann traf ihn der Wasserstrahl direkt ins Gesicht. Lachend und Wasser ausspuckend öffnete er die Augen wieder und blickte in das grinsende Gesicht eines Clowns, der eine Plastikblume auf ihn gerichtet hatte. „Das ist eine Wassertulpe,“ erklärte er. „Tulpen sind die schönsten Blumen, aber man muss höllisch aufpassen, dass sich nicht irgendetwas Komisches in ihnen verbirgt!“
Der Junge nahm die Blume und begutachtete sie, wieder spritzte ihm Wasser ins Gesicht.
„Jetzt ist ja meine ganze Schminke weg!“, beschwerte sich der Kleine, hopste von der Anrichte und besah sich skeptisch im Spiegel.
„Das soll ein Clowns Make-up gewesen sein?“, fragte der Clown. „Warte, ich zeige dir mal wie das geht.“ Dann nahm der Clown einen Hocker und stellte ihn so vor den Spiegel, dass der kleine Junge nun gut hineinsehen konnte. „Augen zu!“, sagte der Clown wieder und der Junge gehorchte. Mit einer
großen, weißen Puderquaste stäubte der Clown dem Jungen weiße Farbe ins Gesicht, dann ummalte er sorgfältig mit Rot den Mund und mit Schwarz die Augen.
„So du kannst sie wieder aufmachen!“, meinte der Clown schließlich und der Junge öffnete die Augen und sah an sich hinunter. „Jetzt fehlt nur noch eine Clownshose“, meinte er.
„Na meine werden dir wahrscheinlich nicht passen“, sagte der Clown und hob den Jungen vom Hocker hinunter auf den Boden.
„Wenn ich groß bin, dann will ich auch Clown werden“, sagte der Junge und blickte strahlend in das runzlige Gesicht des Clowns. All der weiße Puder hatte seine Fältchen noch mehr hervortreten lassen. Aber anstatt älter zu wirken, gab das Lachen dem Clown einen frischen, jungen Ausdruck, dass man hätte denken können, er wäre gerade 10.
Der Junge ging im Wohnwagen herum und blieb schließlich vor einem Bücherregal stehen. „Du hast aber viele Bücher“, schwärmte er.
Viele davon haben meinem Vater gehört“, sagte der Clown und deutete auf eine Fotografie an der Wand, die einen großen, jungen Mann neben einem Flugzeug zeigte.
„Mein Papa hat auch viele Bücher und er ließt mir immer vor!“
„Ich kann dir auch vorlesen. Ich habe ein schönes Märchenbuch. Was ist denn dein Lieblingsmärchen?“, fragte der Clown und zog ein dickes, gebundenes Buch hervor.
„Rumpelstilzchen“, sagte der Junge.
„Na dann komm her.“ Der Clown ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm den Jungen auf den Schoß und setzte sich die Brille auf die spitze Nase. Seine blauen Augen überflogen die Seiten auf der Suche nach dem Anfang. „Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter…“
Und dann las der Clown und der Junge lachte und als sie zum Schluss kamen, da klappte der Clown das Buch zu, stand auf und rief: „Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt”
Und der kleine Junge stampfte mit und auch er rief immer wieder: „Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt!“
„Das schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hinein fuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei“, erzählte der Clown zu ende und der Junge lachte und war glücklich.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte er mit strahlenden Augen.
„Was immer du willst kleiner Freund“, antwortete der Clown.
„Dann will ich jetzt zum Ponyreiten!“, meinte der Junge und hüpfte zur Tür, stieß sie auf und verschwand hinaus auf die Wiese.
Der Clown folgte ihm humpelnd hinaus, auf seinen Stock gestützt und den Rücken gebeugt und dennoch vor Kraft strotzend.
„Boah!“, hörte er den kleinen Jungen rufen und sah auf. „Die Wolke da, die sieht aus wie ein Flugzeug.“
Der Clown kam näher und blinzelte ins Sonnenlicht. Der weiße Puder auf seiner Haut glitzerte und auch das Gesicht des kleinen Jungen erstrahlte.
„Und die da, die große, die ist der Landeplatz!“, sagte der Clown und deutete auf eines der flauschigen Gebilde am Himmel.
„Lass uns Flugzeug spielen“, bat der Junge.
„Ist gut. Du bist das Flugzeug und ich lege mich ins Gras und bin die Landebahn, in Ordnung?“
Der Junge nickte fröhlich, breitete die Arme aus und sauste über die Wiese.
Der Clown ließ sich ächzend ins Gras fallen und schloss die Augen. Nur Minuten später fiel der Junge daneben und rief: „Flugzeug gelandet!“ Der Clown streichelte dem Jungen durch die Haare.
„Warum hast du zwei Haare?“, fragte der Junge und meinte die rote Perücke des Clowns, die etwas verrutscht war und ein graues Büschel auf seiner Stirn entblößte.
„Weil ein Clown doch immer rote Haare hat, oder hast du schon einmal einen Clown mit grauen Haare gesehen?“ Der Junge schüttelte den Kopf.
„Siehst du. Und weil meine nicht rot sind brauch ich eben Ersatzhaare“. Der Junge blickte skeptisch, sagte aber nichts.
Eine Zeit lang lagen sie nur nebeneinander da, der alte Clown mit dem Lächeln und der kleine Junge, vielleicht sechs Jahre alt.
„Wir sind doch Freunde, oder?“, fragte der Junge schließlich.
„Die Besten“, meinte der Clown.
„Dann musst du mir versprechen, dass du nie mehr weg gehst!“
„Nie wieder?“, fragte der Clown.
„Nie mehr!“, sagte der Junge.
„Ich verspreche dir, dass ich immer für dich da bin. Jetzt lass uns reingehen, ich glaube es regnet bald!“.
Es hatte tatsächlich geregnet und wir hatten Tee getrunken und Kekse gegessen. Und als er sich am Abend von mir verabschiedete, da hatte er ein kleines bisschen geweint. Wahrscheinlich wusste er schon, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Und heute, wo ich ihn wieder besuche, da ist alles so anders, er ist kein Glücklichmacher mehr, sondern braucht jemanden, der ihn glücklich macht.
„Mach mal die Augen zu“, sagte ich leise und dann goss ich einen Schwall Wasser aus der Gießkanne über die Tulpen auf dem Grab vor mir.