Schreiben ist nicht so einfach. Solange man es darf, macht es Spaß, wie alles andere auch. Sobald man es aber muss, kann es einen in ein tiefes Loch fallen lassen. Der Protagonist dieser Geschichte muss das am eigenen Leib erfahren.
“Schreiben ist nicht so einfach. Solange man es darf, macht es Spaß, wie alles andere auch. Sobald man es aber muss, kann es einen in ein tiefes Loch fallen lassen. Der Protagonist dieser Geschichte muss das am eigenen Leib erfahren”.
Der Ghostwriter
„Ich bin ein guter Schwamm, denn ich sauge Ideen auf und mache sie dann nutzbar. Die meisten meiner Ideen gehörten ursprünglich Leuten, die sich nicht die Mühe gemacht haben, sie weiterzuentwickeln.”
Thomas Alva Edison (1847-1931)
Es war Februar, ein scheußlicher, grauer Regentag im Februar. Ich saß auf der Veranda unter dem Dach aus Plexiglas, das ich letzten Winter angebracht hatte, damit ich auch an Tagen, an denen es schneite, dort sitzen konnte. Eingehüllt in warme Decken, mit einer Tasse Earl Grey auf dem kleinen Kaffeetischchen neben mir und dem Laptop auf dem Schoß.
Diese Tage waren inspirierend, die kalte Luft peitschte die Gedanken und Ideen durch meinen Kopf und ich brachte sie alle zu Papier, eine nach der anderen. Abends waren meine Hände oftmals so gerötet, dass sie sich kaum von der Farbe meiner Wand abhoben, wenn ich sie dagegen hielt.
Es macht mir bis heute nichts aus, wenn ich sie abends kaum mehr spüre, denn ich weiß, dass ich etwas geschaffen habe. Mein Kapital sind meine Ideen.
Aber an jenem Tag im Februar saß ich nur da und starrte in die Leere und es fegten keine Gedanken durch meinen Kopf, außer, dass kein Mensch gerne Geschichten über Regen las. Molière, ein französischer Komödiendichter hat einmal gesagt: „Beim Schreiben ist es wie bei der Prostitution. Zuerst macht man es aus Liebe, dann für ein paar Freunde und schließlich für Geld.”
Ich glaube, ich war damals schon gar nicht mehr weit von Letzterem entfernt. Irgendwann geschieht es einfach und keiner kann genau sagen wann es war und dann tritt man ins Geschäft ein und sämtliche Leidenschaft für das Schreiben wird untergraben von Verträgen und Fristen und Lektoren.
Nun forderten mich jene fast täglich auf, ich solle liefern, ich solle mich doch beeilen, so schwer könne es schließlich nicht sein ein paar Worte aufs Papier zu bringen.
Früher hatte ich meine Geschichten geliebt, ich war mit einem Gedanken an sie abends eingeschlafen und morgens wieder aufgewacht, ich kannte jeden einzelnen Charakter und hatte mit ihnen gelacht und geweint und war unendlich traurig gewesen, wenn ich den letzten Satz geschrieben hatte.
Dumpf hämmerte der Regen auf den Asphalt. Ich sah auf die Uhr, es war fast fünf, der Tag neigte sich endlich dem Ende zu. Morgen, sagte ich mir, morgen fange ich an.
Ich beginne den Tag immer mit dem selben Ritual. Ich gehe zum Bäcker, kaufe ein Croissant und eine Vollkornsemmel, setze mich zu Hause mit einer Tasse Tee und der Zeitung auf die Veranda und frühstücke. Eine Semmel mit Butter und das Croissant mit Marmelade, das mache ich seit vier Jahren so, seit ich eingezogen bin habe ich nicht ein Mal etwas anderes gemacht.
Das Wasser brodelte im Kocher und irgendwie erinnerte mich das Geräusch ein bisschen an den Regen von gestern. Ich ging zum Kühlschrank, um Butter und Marmelade zu holen, doch die Butterdose war leer. Es klingt ein wenig seltsam, wenn ich es als Schicksal ansehe, dass ich vergessen hatte neue zu kaufen, denn so kam es, dass ich dem Mann das erste Mal begegnete.
Ich hatte mich in letzter Zeit so selten aus dem Haus bewegt, dass ich kaum mehr wahrnahm, was um mich herum geschah. Wie lange wohnte er schon in der 12a?
Ich klingelte und nach einiger Zeit kam ein alter Mann an die Tür gehumpelt, auf einen Stock gestützt und vom Alter gebeugt.
Trübe Augen blitzten mich von unten herauf an. Ich lächelte, der Mann lächelte zurück und fragte mich, was ich wolle.
„Hätten Sie ein wenig Butter für mich?“, fragte ich.
Der Mann sah mich entgeistert an. „Meinen Kutter? Der ist 1984 gesunken. Schade eigentlich, es war ein schönes Schiff. Meine Frau und ich sind oft damit unterwegs gewesen.“
„Butter“, wiederholte ich etwas lauter.
„Oh, verzeihen Sie bitte junger Mann, ich habe wohl wieder vergessen es anzustellen. Im Alter wird alles schlimmer. Die Augen wollen nicht mehr und die Ohren auch nicht“, meinte der Alte und drehte an einem Rädchen an dem Gerät an seinem Gürtel.
„Kein Problem“, antwortete ich.
„Ach ja, die Butter, warten sie einen Augenblick.“
Er ließ mich im Türrahmen stehen. Wie kam es, dass ich wirklich keine Ahnung hatte, wer er war? Verstohlen warf ich einen Blick auf das Klingelschild, doch es gab keinen Namen.
Der Alte kam zurück mit einem kleinen Teller in der Hand und reichte ihn mir.
„Vielen Dank, Herr….“, ich sah ihn fragend an.
„Bickmeier. Robert Bickmeier“, er hielt mir eine faltige Hand hin.
„Stefan Kutovski“, meinte ich und nahm die Hand.
„Freut mich Herr Kutovski, sind sie neu hergezogen?“, fragte der Mann.
„Ja, vor vier Jahren“, sagte ich ruhig.
„Oh.“
„Und Sie?“
„Ich lebe hier seit vierzig Jahren.“
„Oh.“ Ich musste grinsen.
„Sie kommen wohl nicht viel aus dem Haus“, stellte der Alte fest.
„Nein, ich bin Schriftsteller“, antwortete ich. „Wir sind zurückgezogene Leute. Und Sie? Leben Sie alleine hier?“
Der Mann nickte.
„Meine Frau ist vor zehn Jahren gestorben, seitdem hatte ich nicht mehr viel Besuch.“
„Das tut mir Leid.“
„Muss es nicht, wir haben wunderbare Jahre zusammen verbracht. Ich habe mir immer gewünscht, ich könnte unser Leben einmal zu Papier bringen, es ist eine so schöne Geschichte. Wie in den ganzen Liebesfilmen.“ Der Alte lächelte verträumt.
„Warum tun sie es nicht?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht wie. Das Leben hat unsere Geschichte geschrieben, aber das Geschehene in Sätze zu fassen…, nun ja….“, er schüttelte den Kopf.
„Mark Twain hat einmal gesagt, dass Schreiben ganz leicht wäre, man müsse nur die falschen Wörter weglassen“, meinte ich.
„Sie haben gut reden. Sie sind jung und voller Energie. Ihnen fällt es leicht die richtigen Worte zu finden. Aber… Herr Kutovski, ich will sie gar nicht von ihrem Frühstück abhalten. Es war schön, Sie kennen gelernt zu haben.“
„Sie halten mich ganz und gar nicht ab, aber vielen Dank für die Butter“, entgegnete ich.
Ich reichte ihm zum Abschied die Hand und wandte mich zu gehen.
Ich hörte wie er hinter mir die Tür schloss, doch bevor sie ganz zuschlug, trat ich mit dem Schuh dazwischen.
„Mögen Sie Earl Grey?“, fragte ich.
„Den Grafen oder den Tee?“, fragte er mit einem Lächeln.
„Den Tee“, antwortete ich.
„Sehr gerne sogar“, meinte der Mann.
„Hätten Sie nicht Lust, mir beim Frühstück Gesellschaft zu leisten?“, fragte ich weiter.
Das Gesicht des Alten erhellte sich und er nickte begeistert.
„Wussten Sie, dass Earl Grey früher nur aus chinesischen Teesorten bestand?“, fragte er mich, als wir gemeinsam auf meiner Veranda saßen und beide eine dampfende Tasse vor uns stehen hatten.
„Nein, tatsächlich?“
„Und das Aroma stammte aus dem Öl der Bergamotte, einer leicht bitteren Zitrusfrucht. Heutzutage wird der Tee aber oft auch mit indischen Teesorten vermischt, man findet kaum noch den Traditionellen“, erklärte der Mann.
Ich sah in meine Tasse.
„Erzählen Sie mir aus ihrem Leben“, bat ich den Alten nach einer kurzen Pause.
„Ich will Sie wirklich nicht aufhalten Herr Kutovski“, meinte der Mann.
„Erzählen Sie, bitte“, sagte ich etwas nachdrücklicher.
„Wo soll ich denn beginnen?“
„Das ist egal. Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem wir nicht…“, fing ich an.
„…vertrieben werden können, Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, ein deutscher Erzähler, nicht wahr? Ein sehr weiser Spruch“, vervollständigte der Mann.
Ich nickte.
„Erzählen Sie mir, wie Sie ihre Frau kennen gelernt haben“, meinte ich.
Inspiration ist etwas Faszinierendes. Man kann tagelang nachdenken, doch bekommt kein Ergebnis und dann geschieht etwas, ein Wort, oder eine Geste und schon reihen sich Sätze aneinander, es entwickeln sich Vorstellungen, es ist, als baue man sich eine Welt im Kopf auf.
„Es war im Sommer 1938, am 15. August um 14:56 Uhr als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Ich war gerade nach München gezogen um meine Ausbildung anzufangen und da habe ich sie getroffen. Sie war so schön, so perfekt und anfangs hat sie mich überhaupt nicht beachtet…“
Und er erzählte mir Stunde um Stunde von ihr, wie sie sich getroffen hatten, wie sie sich verliebten und sich schworen, dass sie für immer zusammen bleiben wollten.
Und ich kochte Tee und brachte Gebäck und hörte ihm nur zu.
Es wurde Abend und er wurde müde, also entließ ich ihn nach Hause, nicht ohne ihm das Versprechen abzunehmen, dass er morgen wieder kam.
Ich nahm mir eine Decke vom Sofa, holte meinen Laptop und fing an zu schreiben, jede Kleinigkeit wollte ich in die Geschichte einbauen. Sie war zu perfekt, ein Roman der lebendiger nicht werden konnte. Ich tippte die halbe Nacht hindurch und als ich zu Bett gehen wollte, hatte ich Angst, dass ich alles vergessen würde, was ich noch nicht in Worte gefasst hatte, also schrieb ich weiter.
„Wussten Sie, dass ,Croissant’ vom französischen ,lune croissante’ stammt, was zunehmender Halbmond heißt?“, fragte mich der alte Mann am nächsten Morgen.
„Nein, aber dass es viele erfundene Anekdoten über die Herkunft gibt“, antwortete ich und bestrich das Hefehörnchen mit Marmelade.
„Soll ich ihnen weiter erzählen?“, fragte er mich schließlich mit einem fast kindlichen Glanz in den Augen.
Ich nickte und ich war bestens darauf vorbereitet, nicht ein wichtiges Detail zu vergessen.
Als er mit der Geschichte fortfuhr, schaltete ich unbemerkt das Aufnahmegerät neben mir an, lehnte mich zurück und lauschte den Erinnerungen von Robert Bickmeier, wie er 1939 für die Luftwaffe gestartet war und er und seine Frau durch den Krieg getrennt wurden, wie er Jahre lang nicht wusste wo sie war, aber sie nie vergessen hatte. Er erzählte vom Zusammenbruch des Regimes, von der Teilung und der verzweifelten Suche nach seiner Liebe. Und am Abend standen ihm Tränen in den Augen und ich schaltete das Tonband ab und brachte ihn nach Hause.
Meine Finger flogen in den nächsten Tagen nur so über die Tastatur, ich kam mit dem Schreiben kaum hinterher, meine Fingerkuppen waren wund und der Alte erzählte und erzählte und war kaum zu bremsen in seiner Freude. Die Tage vergingen und ich begann mich zu wundern, wie man sich nur so viel merken konnte.
„Jede dieser Erinnerungen ist ein Schatz für mich, sie würden doch Schätze auch wie ihren Augapfel hüten, oder?“, hatte er gesagt, als ich ihn darauf angesprochen hatte.
Und schließlich wurde es Frühling und ich hatte fast 400 Seiten gefüllt mit einer der bezauberndsten Geschichten, die die Welt jemals lesen würde. Ein Bestseller war es, das, was sich jeder Autor wünschte.
„Wussten Sie, dass der Frühling auf jeden eine andere Wirkung haben kann? Bei manchen kommt es zu einer vermehrten Hormonausschüttung, bei anderen zur sogenannten Frühjahrsmüdigkeit, bei beiden ist aber nicht bewiesen wieso das genau so ist“, erzählte mir der Mann und ich fragte mich langsam, ob er die gesamten Brockhausbände verschluckt hatte.
„Ich hatte eben viel Zeit zum Lesen“, antwortete er.
„Viel Zeit zum Lesen werden sie jetzt auch brauchen“, meinte ich geheimnisvoll.
Ich hatte heute morgen den letzten Satz geschrieben, ein wunderschönes, hoch romantisches Zitat von Hermann Hesse: „Den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: Je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben.” Und ich hatte alles ausgedruckt für ihn, damit er es lesen konnte, Anmerkungen dazu machte und ich es dann handsigniert meinem Verlag präsentieren konnte.
Er würde es lieben, es war das was er sich immer gewünscht hatte, die Geschichte seines Lebens, seiner Liebe.
„Haben Sie es schon weggeschickt?“, fragte er mit einem Ton, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Er war enttäuscht.
„Nein, ich wollte es Sie erst lesen lassen“, sagte ich skeptisch.
Wieso verdammt noch mal weinte er?
Er stand auf und warf das Manuskript auf den Tisch.
„Das ist meine Geschichte! Das ist nichts für die Öffentlichkeit, das ist meine Vergangenheit, sie gehört nur mir! Mir und meiner Frau, da haben sie nichts drin zu suchen. Ich habe Ihnen das erzählt und Sie wollen aus meinen Erinnerungen Profit schlagen?“, rief er, ich hatte nie geglaubt, dass er fähig war so zu schreien, dann nahm er seinen Stock und humpelte von der Terrasse weg, zu sich nach Hause.
Und ich stand da, mit meiner Tasse in der Hand und sah hinunter auf das Chaos der Blätter. Das Chaos von Roberts Bickmeiers Leben. Was bitte hatte ich denn falsch gemacht? Seine Geschichte war doch so perfekt, sie hätte vielen Leuten Mut gemacht und ich hatte auch nie vorgehabt sie als meine Eigene zu veröffentlichen. Mein Nachbar war im Prolog und in der Danksagung verewigt.
Ich räumte die Blätter zusammen und trug sie ins Haus. An diesem Nachmittag begann ich noch einmal in das Leben des Alten einzutauchen, ich litt mit ihm, ich freute mich mit ihm und am Ende kam mir das Zitat von Molière wieder in den Kopf.
Ich war tatsächlich auf der letzten Stufe angekommen. Für Geld hatte ich alles tun wollen.
Ich konnte in der Nacht nicht schlafen und lief unruhig im Haus umher. Wohl zwanzig Mal sah ich aus dem Fenster hinüber zu Nummer 12a. Es brannte Licht im Wohnzimmer. Ich kochte mir eine Tasse Earl Grey und versuchte die indischen Teesorten getrennt von den chinesischen zu schmecken, aber ich schmeckte gar nichts.
Der Morgen brach an und ich setzte mich ins Auto und fuhr in die Stadt. Ich kaufte ein Buch, ein wunderschönes, altes Buch, mit leicht gelblichen, aber leeren Seiten und ich legte es zu Hause auf den Tisch, nahm meinen Füller aus der Schublade und schrieb, schrieb das erste Mal seit weiß Gott wie vielen Jahren mit echter Tinte auf echtem Papier. Und ich schrieb sie aus dem Kopf, die Geschichte. Noch einmal brachte ich sie zu Papier und ich ließ alle falschen Worte weg und das Schreiben war so leicht. Meine Hand kam nicht schnell genug mit mit meinen Gedanken.
„Es gibt bestimmte Ideen, die im Bewusstsein nur so kurz auftauchen, wie der Karpfen beim Springen an der Wasseroberfläche sichtbar wird. Wenn man sie nicht im selben Augenblick aufspießt, gehen sie aufs neue im Nichts verloren“, schoss es mir durch den Kopf und ich setzte kurz ab und lächelte.
Henry de Montherlant hatte das gesagt, ein französischer Dichter. Meine Hände taten weh, aber ich hörte nicht auf. Ich aß fast nichts und trank fast nichts, ich schrieb nur noch. Stunde um Stunde, Tag um Tag und dann auf einmal war ich fertig. Ich hatte den letzten Satz auf die allerletzte Seite des Buches geschrieben. Ich schloss es und ging hinüber zu Robert Bickmeiers Haus, der 12a und klingelte.
Als er mir öffnete funkelte in seinen Augen Zorn. Ich hielt ihm das Buch hin.
„Es tut mir Leid,“ sagte ich.
Er gab mir seinen Stock in die Hand und blätterte das Buch durch, las ein paar Zeilen, blätterte weiter, dann klappte er das Buch zu und ich sah, dass er Tränen in den Augen hatte, aber er lächelte.
„Das Ziel des Schreibens“, sagte er „ist es, andere sehen zu machen.“
(Joseph Conrad, britisch- polnischer Autor)