Am Ende zieht das Leben in Bildern an einem vorüber. Keiner weiß, welche Bilder wir sehen werden, aber sie sind alle da.
“Am Ende zieht das Leben in Bildern an einem vorüber. Keiner weiß, welche Bilder wir sehen werden, aber sie sind alle da”
Die Galerie
„Kommen Sie näher, kommen Sie herein, treten Sie ein. Ich weiß es kommt ein wenig überraschend, aber heute ist der Eintritt für Sie frei. Also keine Scheu, kommen Sie herein!“
Vielleicht war es Einbildung, aber ich meinte trotz der munteren Stimme des älteren Herrn ein wenig Enttäuschung in seinen Augen zu erkennen. Er lächelte mehreren Passanten auffordernd zu, doch die meisten gingen nur mit gesenktem Kopf und hastigem Schritt an ihm vorbei und jene, die aufsahen schüttelten nur den Kopf. Ich stand auf der anderen Straßenseite und dachte mir, dass ich wohl zehn Minuten erübrigen könnte, um mich im Laden des Mannes etwas umzusehen. Ich sah nach rechts und links, sah kein Auto und ging über die Straße.
„Schön, dass Sie da sind, wollen Sie hereinkommen?“, fragte mich der Mann und ich nickte. Er öffnete die Tür, zog seinen Zylinder vom Kopf und bat mich mit einer Verbeugung durch die Glastür. Ich stand in einem vollkommen leeren Raum und blickte mich verwundert um. Ich hatte zunächst gedacht der ältere Herr wäre in der Tür stehen geblieben in der Hoffnung doch noch den ein oder anderen Kunden ins Haus zu locken, aber er hatte die Tür geschlossen, das Schild daran auf „zu“ gedreht und war mit mir ins Zimmer getreten.
„Ja ich weiß es ist noch nicht ganz fertig und ein bisschen chaotisch auch noch. Ich hatte noch nicht mit Ihnen gerechnet“, sagte der Mann meinen skeptischen Blick deutend.
„Mit mir gerechnet?“, fragte ich verwundert.
„Kommen Sie einen Raum weiter, da geht die Ausstellung los“, erklärte der Mann und zwirbelte seinen Bart.
„Ist das hier eine Galerie?“, wollte ich wissen.
„Ja, so könnte man es wohl nennen“, antwortete der Herr. Von der anderen Straßenseite hatte er freundlich ausgesehen, jetzt allerdings fand ich ihn ein wenig unheimlich. Er hatte sehr tief liegende Augen, war recht klein und buckelig und trug einen seltsamen beigen Trenchcoat, der so lang war, dass er auf dem Boden schleifte.
„Kommen Sie nun, oder nicht?“, fragte er streng. Er wartete bereits im Türrahmen auf mich. Ich folgte ihm, hauptsächlich deshalb, weil ich es unhöflich gefunden hätte jetzt zu gehen. Er schien mir wirklich etwas zeigen zu wollen.
„Schauen Sie sich ruhig in aller Ruhe um“, bat er mich tätschelte mir den Rücken etwa auf Taillenhöhe.
„Ok“, brachte ich hervor und tat so, als würde ich interessiert im Raum umhergehen und mir die Bilder an den Wänden ansehen. Ohne Kunstkennerin zu sein hätte ich sie dem Surrealismus zugeordnet. Ich erkannte seltsame, in sich verschwommene Figuren und bunte Farben.
Eines der Gemälde zeigte einen knorrigen, schwarzen Baum vor pinken Bergen, ein anderes einen gelben See vor verschwommener Gebirgskette. „Das ist der Limonadensee“, erklärte mir der Mann. „Waren Sie dort schon einmal? Leider ist er mittlerweile fast ausgetrocknet. Es schlürfen einfach zu viele Touristen daran.“
„Das ist witzig, als ich fünf war, habe ich mit meiner Mutter einen Ausflug an einen See gemacht. Irgendwie war das Wasser darin so gelblich, dass ich ihn immer den Limonadensee genannt hab“, erzählte ich.
„Das ist ja ein Zufall“, freute sich der Mann und klatschte in die Hände.
„Und wenn ich mir die Katze da hinten genauer ansehe, hat sie echte Ähnlichkeit mit der meiner Oma. Leider starb Minka, als ich noch klein war. Ich kann mich aber noch gut an sie erinnern“, sagte ich.
„Noch so ein Zufall“, der Mann klatschte erneut. „Warten Sie erst, bis Sie den nächsten Raum sehen“.
„Es gibt noch einen Raum?“, fragte ich und sah auf die Uhr.
„Ja natürlich, was dachten Sie denn?“, antwortete der Mann völlig entrüstet. „Ich kann Sie nicht gehen lassen, ohne dass sie das ganze prächtige Ausmaß dieser Ausstellung gesehen haben“.
„Ich habe aber wirklich wenig Zeit, ich bin eigentlich verabredet und ich muss sagen diese… Bilder sind wirklich ausgefallen und etwas ganz Besonderes, aber sie mir alle anzusehen… nun ja… das dauert doch ganz schön lange.“ Ich fühlte mich schlecht ihn so vor den Kopf zu stoßen, aber ich war mittlerweile tatsächlich spät dran und musste mich nun wirklich beeilen.
„Aber Sie finden bestimmt noch mehr Erinnerungen. Hat Ihnen das keinen Spaß gemacht“, fragte der Mann.
„Ja der Baum dort sieht aus, wie der, auf den ich als Kind geklettert bin, dieser Hügel da wie jener hinter dem Haus meines Vaters an dem wir Schlittenfahren waren und wenn ich dieses Bild da sehe, erinnert mich das an eine Schiebewand in der Wohnung meiner anderen Oma. Vermutlich erkennt jeder Betrachter in diesen Bildern etwas, dass ihn an eine Situation in seinem Leben erinnert. Es sind ja auch ziemlich alltägliche Dinge dargestellt“, versuchte ich zu erklären und sah wieder auf die Uhr. „Also auf Wiedersehen und vielen Dank“.
„Sie kommen hier nicht raus, die Tür ist verschlossen“, der Mann grinste.
„Sie haben mich hier eingesperrt?“, rief ich erschrocken.
„Sie sind von selbst hier hereingekommen, niemand hat Sie gezwungen“, belehrte mich der Alte.
„Ich hatte doch nur Mitleid, weil niemand anderes kam. Ich war auf der ganz anderen Straßenseite!“, sagte ich und rüttelte an der Ladentür.
„Ich wollte ja gar nicht, dass jemand anderes kommt. Nur für Sie war heute freier Eintritt. Und nicht, dass sie denken, das hätte mich nicht überrascht. Es hat mich überrascht, dass Sie es waren, deshalb war ich ja auch noch nicht fertig“, verdeutlichte mir der Mann.
„Wer zur Hölle sind Sie? Haben Sie mir nachspioniert, was ist hier los?“, ich fing an den Mann zu rütteln. Er wehrte sich nicht.
„Ach sie reagieren alle immer gleich. Alle unterstellen mir immer Böses, und das obwohl ich doch nur meine Bilder zeigen will“, seufzte er. Ich ließ ihn los.
„Wenn ich mir alle Bilder ansehe, komme ich hier raus?“, fragte ich.
„Das habe ich doch gesagt. Glauben Sie mir, da kommen noch ganz tolle!“, freute sich der Herr und schwenkte seinen Zylinder. „Kommen Sie hier entlang. Wir haben uns wirklich lange genug mit Kindermalerei aufgehalten“. Er nahm meine Hand und führte mich ins nächste Zimmer und ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben. Mir gingen Szenarien durch den Kopf, die ich mir aus den hundert Folgen amerikanischer Krimiserien zusammenreimte, die ich in den letzten Monaten gesehen hatte. Ich überlegte, wie ich den Kerl am besten überlisten könnte und dass ich die Glastüre wohl mit einem der Bilder einschlagen und fliehen könnte, wenn es nötig werden würde.
„Mir wird oft gesagt, dass ich Menschen Angst mache“, erzählte mir der Mann. „Aber das ist gar nicht meine Absicht. Ich will doch nur die Bilder zeigen“.
„Dann zeigen Sie, damit ich endlich gehen kann!“, erwiderte ich genervt.
„Ich bitte Sie nur sich Zeit zu nehmen. Vielleicht werden Sie die Bilder nie wiedersehen. Das weiß man nie“, sagte der Mann und lächelte.
Ich fing an im neuen Raum umherzugehen. Ich plante die Bilder nur kurz zu überfliegen, so zu tun, als hätte ich sie gesehen, damit mich der Mann endlich gehen ließ, doch ich konnte es nicht. Jedes Bild, so banal das darauf dargestellte auch war, erinnerte mich an etwas. Da war ein pinkes Quadrat mit weißen Streifen auf der Seite und ich erkannte darin meine erste Schultasche, ein Mädchen, das einen fliederfarbenen Pullover trug. Genauso einen hatte ich auf meinem ersten Klassenfoto im Gymnasium an. Da waren umherfliegende Papierseiten, ein Notenständer, der für mich nicht nur ein Notenständer war, sondern mir meine Zeit im Chor vor Augen führte. Ich blickte mich zu dem Mann um und dieser lächelte. „Ah Sie erkennen es“, freute er sich. „Jedes Bild zeigt Ihnen etwas ganz Besonderes“.
„Naja ich bin mir sicher, dass dieser Notenständer für einen anderen Besucher der Galerie etwas völlig anderes bedeutet“, sagte ich.
„Ja aber natürlich ist das so. Nicht die Dinge machen Erinnerungen aus, sondern unsere Empfindungen bezüglich dieser Dinge. Sehen wir sie dann wieder, dann sind all diese Sachen wie Brücken, die unser Leben verbinden“, erklärte mir der Mann.
„Sehr philosophisch“, entgegnete ich sarkastisch. „War‘s das jetzt?“
„Haben Sie das Gefühl, Sie sind fertig?“, fragte mich der Mann.
„Ja, das hatte ich schon im Raum davor“, antwortete ich.
„Tja dann haben Sie wohl das falsche Gefühl“, scherzte der Alte.
Ich seufzte. „Neuer Raum?“
„Bleiben Sie offen für die Wirkung der Bilder“, riet mir der Mann, ehe ich einen neuen Raum betrat. Hier hingen die Bilder kreuz und quer an den Wänden, einige waren schief, einige umgedreht.
„Ist das beabsichtigt?“, fragte ich.
„Ja, es ging nicht anders. Da war so viel Chaos“, erklärte der Mann.
„Da ist viel Chaos“, korrigierte ich ihn.
„Sortieren Sie es doch, helfen Sie mir“, ermunterte mich der Mann.
Ich ging zum ersten Bild zu meiner rechten Seite und drehte es herum. Es zeigte nur bunte, verschmierte Farben. „Was soll das denn sein?“, fragte ich.
„Das weiß ich auch nicht. Was erkennen Sie denn darin?“, fragte der Mann.
„Das sieht aus, als hätte einfach jemand seine Hände in Farbe getaucht und über das Bild gewischt. Aber anscheinend fällt sowas unter Kunst. Ich habe im Gymnasium damals auch für ein Bild einfach mit meinen Händen herumgeschmiert und mein Lehrer meinte, das sei die echte Künstlerseele“, erzählte ich.
„Klingt plausibel“, kommentierte der Mann.
„Der Kaffeebecher dort drüben ist einfach. Mein erster Freund hat mir damals seine Telefonnummer auf einen Kaffeebecher geschrieben. Oh und das hier sieht aus wie ein Puzzle, die habe ich früher wahnsinnig gerne gemacht. Einmal habe ich eines mit Delfinen gepuzzelt und dazu ein Lied in Dauerschleife gehört. Was war das noch.. ah ja irgendsoein Remix von „Nothing’s Gonna Stop Us Now“ auf einer Misch-CD. Den ganzen Nachmittag lang. Den Text kann ich heute noch“. Ich rückte das Bild gerade.
„Toll!“, stellte der Mann fest.
„Das Schiff da, nach meinem Abi war ich auf Kreuzfahrt mit meiner Familie. Ich mag Wasser“, erklärte ich.
„Ich weiß, dass Sie es mögen. Aufregend nicht war, als diese Erinnerungen, die beim Betrachten der Bilder an einem vorbeiziehen. Genau das ist die Intention dieser Galerie“, sagte der Mann aufgeregt.
„Sie wissen, dass ich Wasser mag?“, fragte ich.
„Ja, das sieht man Ihnen an. Glauben Sie mir, ich sehe jeden Tag so viele Menschen, da bekommt man ein Gespür dafür“, war seine Antwort.
„Sperren Sie die auch hier ein?
„Sie kommen alle freiwillig herein!“, stellte der Mann klar.
„Schon gut, wo geht es weiter?“, beschwichtigte ich ihn.
„Hier entlang. Jetzt kommen noch einmal ein paar echte Goldstücke“, versprach mir der Alte.
Und tatsächlich, da kamen Bilder, bei denen ich dachte, ich könnte darin gar nichts erkennen, bis es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, an was sie mich erinnerten. Im letzten der Bilder erkannte ich den alten Mann vor der Galerie.
„Das ist tatsächlich beeindruckend“, lobte ich ihn. „Als würde das gesamte Leben noch einmal in Bildern an einem vorübergehen. Ich habe mich an Sachen erinnert, an die ich lange nicht mehr gedacht habe“.
„Ich sagte Ihnen doch, es lohnt sich, bis zum Schluss zu bleiben. Sie haben wirklich schon viel erlebt“, sagte der Mann.
„Ja, meinen Sie, es kommen irgendwann noch mehr Bilder dazu? Sodass ich in ein paar Jahren noch einmal wiederkommen kann und mich an neue Dinge erinnere?“, fragte ich aufgeregt.
„Ah, Sie haben Blut geleckt, nicht wahr?“, freute sich der Mann. „Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen, würde ich sagen“.
„Was ist in diesem Raum dort noch?“, fragte ich und deutete mit dem Finger auf eine halboffene Holztür. Das Zimmer dahinter schien hell erleuchtet zu sein. „Gibt es dort noch mehr Bilder?“
„Im Licht? Nein da gibt es keine Bilder mehr“, antwortete der Mann.
„Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, müssen Sie wissen“, sagte ich dem Herrn.
„Ja, das weiß ich“, er zwinkerte mir zu. „Hören Sie, es gibt eine Menge Leute, die diesen Raum unbedingt noch sehen wollen und fast genauso viele gehen auch hinein, aber…also normalerweise sollte ich das nicht tun, aber ich mag Sie und rate Ihnen dringend, einfach zu gehen. Ich darf eigentlich keine Empfehlungen aussprechen und mache das auch wirklich nur sehr selten. Und Sie kommen ja bestimmt irgendwann wieder und dann zeige ich Ihnen das letzte Zimmer. Aber Sie sind doch ohnehin schon so spät dran, meinten Sie“.
Ich sah erneut auf die Uhr, erkannte, dass ich tatsächlich keine Minute länger trödeln sollte. Der Mann wollte mich endlich gehen lassen. „Ich werde mich daran erinnern, dass Sie mir das letzte Zimmer schuldig sind“, sagte ich.
„Da habe ich gar keinen Zweifel“, der Mann lupfte wie zu Beginn seinen Zylinder, verbeugte sich und hielt mir die Hintertüre auf. „Vielen Dank für Ihren Besuch“, sagte er zum Abschied und schloss die Tür hinter mir.
„Noch einmal laden. Vorsicht! Alle weg!“ Mein Kopf fühlte sich benommen an, ich konnte nicht klar denken, meine Augen wollten sich nicht öffnen lassen. Ich spürte dumpf, wie sich eine Hand an meinen Hals legte. „Ich habe einen Puls, wir haben sie wieder“, hörte ich die Worte von ganz Fern hallen. Ich versuchte zu blinzeln. Die Person über mir musste es erkannt haben. Die Worte brauchten lange, bis sie sich den Weg durch die Windungen meines Gehirns gebahnt hatten und ich ihren Sinn verstand: „Sie hatten beim Überqueren der Straße einen Autounfall. Aber Sie sind jetzt stabil, wir bringen Sie in ein Krankenhaus. Alles wird wieder gut“.