Könnte man doch nur wie Alice durch einen Kanninchenbau fallen und in einem Wunderland landen. Würde das das Leben spannender, vielleicht sogar leichter machen?
“Alice” erzählt die Geschichte eines Mädchens, das sich wünscht, ihr Leben wäre ebenso spannend wie das von “Alice im Wunderland”. Denn dort könnte sie dem hektisschen und eintönigen Leben für eine Weile entkommen.
Alice
Als kleines Kind habe ich immer Angst gehabt, dass ich wie Alice in einen Kaninchenbau falle und in einer fremden Welt lande, wo ich nur wieder herauskomme, wenn ich seltsame Pilze und Tränke zu mir nehme. Und ich hasse Pilze, ich mag sie nicht, deswegen wäre ich wohl auf Ewig im Wunderland gefangen gewesen und habe um alles, was einem Loch im Boden auch nur annähernd ähnlich sah einen großen Bogen gemacht.
Und heute? Da steige ich die steilen Stufen zu dem Brunnen hinauf. Setze mich auf die Bank daneben, sodass nur noch der grüne Abfalleimer mich und die kleine Bronze-Figur auf dem Brunnenrand trennt. Sie zeigt einen nackten Jungen mit einem Fisch unter jedem Arm. Aus den Mündern der Fische fließt im Sommer Wasser in den Brunnen, doch jetzt m Oktober fließt gar nichts und auch der Brunnen selber ist abgedeckt. Eigentlich verliert er so jede Faszination, doch dahinter hat man einen eisernen Bogen angebracht, ähnlich einem Torbogen, und drum herum ranken sich Pflanzen, die ich zwar nicht benennen kann, aber die auch im Oktober noch auffallend grün sind. Und wenn hinter dem Gerüst keine Hecke wäre, dann wäre ich wohl schon oft mit geschlossenen Augen darunter hindurch gegangen und hätte mir gewünscht, dass dahinter eine Märchenwelt liegt, einfach weil der Ort so magisch ist.
Ich wäre heute sogar bereit einen Kaninchenbau zu suchen, nur um zu testen, ob ich beim Hindurchfallen im Wunderland ankomme, wo mich der Hutmacher und die Grinsekatze begrüßen und ich etwas Außergewöhnliches und Besonderes bin. Ich bin ein klein wenig wie Alice, verträumt und konfus. Alice sagt im Buch, dass sie schon vor dem Frühstück an sechs unmögliche Sachen denkt, ich würde sie an manchen Tagen sogar übertrumpfen. Wunderland gleich Märchenwelt gleich der Traum von jedem, der einfach nur weg möchte. Da sollten die mal versuchen mich aufzuhalten, abzuhalten..wie auch immer.
Mir scheint noch warme Oktobersonne ins Gesicht.
Ich bin die Zeit, eine Aneinanderreihung von Augenblicken, sprunghaft, kaum greifbar. Menschen versuchen mich mit Verstand zu begreifen, doch man kann mich nicht verstehen. Nur genießen und mich leben, schiebe mir die Vernunft zu und ihr zerstört das Hier und Jetzt.
Wer war das doch gleich der immer in Eile war? War das nicht ein Hase mit einer Uhr, der immer Angst hatte zu spät zu sein?
Ich schließe die Augen und denke an alles, was ich in meinem Leben erlebt habe, höre Autos die Hauptstraße entlangfahren und träume mich davon, lasse vor meinen Augen Heere aus Spielkarten umher marschieren, nehme Pinsel und bemale weiße Rosen blutrot. Oder vielleicht doch lieber blau? In meinem Kopf kann ich schließlich machen, was ich will, in meinem Kopf kann ich immer glücklich sein. Da kann ich der Realität entkommen, weil ich mir Flügel erfinde, die mich mit Lichtgeschwindigkeit federsanft tragen.
Ich brauche eine Taschenuhr, denn mir läuft die Zeit davon. Ich stehe vor einer Wand und würde am liebsten dagegen laufen, einfach nur um zu sehen, ob es denn dahinter noch weiter geht, oder ob ich nun endgültig am bitter-süßen Ende angekommen bin. Das Ende schockt einen und versetzt einen offensichtlich in eine Art Trance, die weder ganz Traum, noch ganz Realität ist.
Und so sitze ich stumm und starr da und schaffe es nicht so ganz aus meinem Wunderland im Kopf auszubrechen. Wieso nicht? Noch nicht einmal, wenn ich friere.
Lass dich ruhig fallen, irgendwer wird schon da sein, um dich aufzufangen. Vertrauen ist gut, Verrücktheit ist besser. Vertrauen ist blind, ich bin das auch. Alice ist verrückt und Alice denkt unmöglich und ich denke unmöglich, denn ich denke in Wünschen und Wünsche machen einen scheinbar so naiv, dass man in seiner eigenen kleinen Welt zu ersticken droht.
Der Brunnen ist im Winter abgedeckt, das Kleinkind mit den Fischen verfällt in Winterschlaf. Kein Mensch fragt sie, ob sie denn das auch wollen und jene, die gerne erst wieder im Sommer aufwachen würden, weil sie jeden Tag Angst haben, etwas könnte sich verändern, die werden nicht gefragt. Die dürfen noch nicht einmal reden. Bis Alice in den Kaninchenbau stürzt muss sie lernen und andere entscheiden ihr Leben für sie und alles ist ja auch schön und gut, nur Dummheiten gehören eben verboten.
Ich mache Dummheiten, jeden Tag mindestens eine…oder zwei…oder drei, aber die Anzahl spielt ja nicht wirklich die Rolle, sondern der Grad der Dummheit. Manchmal wünsche ich mir einen Meterstab oder eine Waage, oder etwas Ähnliches, das mir bei meinen Taten anzeigt wie dämlich sie sind. So wie: nein geh dort nicht entlang, das ist eine 10 auf der Skala, oder sag nein, das bringt dich nur in Schwierigkeiten.
Schwierigkeiten sind da, um sie zu lösen. Um Wege zu finden, wie man um sie herum kommt. Alice stürzt in einen Kaninchenbau und findet ein Wunderland.
Ich sitze auf der Bank und schaue hinunter auf die Welt, die im herbstlichen Licht und Wind ertrinkt. Und die ersten gefärbten Blätter werden umhergewirbelt und ich denke mir, dass ich mir mein Wunderland wohl selber schaffen muss, stehe auf und beginne Kaninchenbauten zu suchen. Man findet sie doch an jeder Ecke…